Die Ohnmächtigen von Den Haag

Das Völkerrecht wurde zuletzt häufig als höchste Instanz zitiert und auf den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verwiesen. Dabei muss die Stadt im Westen der Niederlande froh sein, nicht Opfer einer US-Invasion zu werden. Ein Buchauszug aus Flo Osrainiks neuem Buch »Lügen, Lügen, Lügen«.

 

Damit die Kriege der Mächtigen nicht nur gegen alle Freiheitskämpfer und andere Rebellen nach innen und unten, sondern auch zwischen den Herrschern um die beanspruchten Herrschaftsgebiete einen vorgeblich legitimen Rahmen bekommen und es beim gegenseitigen Töten im Namen der Staaten wenigstens einigermaßen geregelt und womöglich auch ein klitzekleines bisschen fair und menschlich zugeht, wurden zwischen den Herrschern, den Reichen und modernen Staaten seit der Antike erste völkerrechtliche Vereinbarungen geschlossen, die sich im Laufe der Zeit zum Regelwerk des sogenannten Völkerrechts weiterentwickelt haben. Für die Freiheitskämpfer und Rebellen gelten diese Regeln allerdings so gut wie gar nicht. Klar, fehlt ihnen doch der anerkannte Staat.

 

Nicht nur der am 15. Dezember 1890 im Standing Rock Reservat in North Dakota ermordete Medizinmann und Stammeshäuptling der Hunkpapa-Lakota-Sioux, Tȟatȟáŋka Íyotake, besser bekannt als »Sitting Bull«, sagte: »Sie haben viele Gesetze gemacht und die Reichen dürfen sie brechen, die Armen aber nicht.« Auch der irische Politiker, Dramatiker und Literaturnobelpreisträger George Bernhard Shaw meinte einst ähnlich aufmüpfig, dass es für Leute mit Geld keine juristischen Schwierigkeiten gebe. Oder so ähnlich. Noch sicherer vor der Siegerjustiz ist man aber im Auftrag oder im Dunstkreis der Sieger selbst. Etwa als waschechter US-Präsident.

 

Völkerrecht: Fast keine Relevanz

Um aber gleich eines vorwegzunehmen: Das Völkerrecht hat in der Praxis sowieso so gut wie keine Relevanz. Das liegt daran, dass es entweder ignoriert oder missbraucht, also je nach Interessenlage des jeweiligen Regimes ausgelegt wird. Außerdem bleiben Verstöße und Verbrechen in den meisten Fällen ohne Folgen. Nun hat ein Regelwerk grundsätzlich aber entweder für alle oder für keinen zu gelten, weil alles andere Heuchelei ist. Allerdings – ich gebe es ja gerne zu – gibt es auch keine glaubwürdige oder unabhängige und demokratische Kontrollinstanz, die dauerhaft mit entsprechenden Befugnissen und Mitteln ausgestattet sowie von allen anerkannt ist, um das Völkerrecht erfolgreich durchzusetzen und die Verantwortlichen bei Verstößen dorthin zu bringen, wo sie hingehören: hinter Gitter.

 

Dass das so ist, beweist ja schon ein Blick auf den wohl gut gemeinten Versuch des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) im niederländischen Den Haag. Das heißt: auf dessen Anklagebank. Da der Aufgabenbereich des IStGH, der erst seit dem Jahr 2002 tätig ist, die vier Kernverbrechen des Völkerstrafrechts, also Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression und Kriegsverbrechen, umfasst, wird dieses Strafgericht, dessen vertragliche Grundlage das sogenannte Römische Statut ist, von vielen Staaten und Großmächten erst gar nicht (mehr) anerkannt oder gebilligt. Man könnte sich ja selbst auf die Füße treten, also damit im Weg stehen. Oder wie es der damalige US-Sicherheitsberater und ehemalige US-Botschafter bei den Vereinten Nationen, John Bolton, im Jahr 2019 während einer Hasstirade so präzise sagte: »Der IStGH ist für uns gestorben«, wobei er mit Sanktionen gegen sämtliche IStGH-Ermittler drohte, wenn diese aus Sicht des US-Imperiums die Falschen, also Bürger der USA, Israels und anderer verbündeter Staaten, ins Visier nehmen würden. Bolton: »Die USA werden zu jedem Mittel greifen, um unsere Bürger und die unserer Verbündeten vor ungerechter Verfolgung durch dieses illegitime Gericht zu schützen.« Und: »Wir werden den IStGH nicht unterstützen. Wir werden uns nicht am IStGH beteiligen. Wir werden den IStGH für sich allein sterben lassen. Für uns ist der IStGH mit all seinen Zielen und Absichten bereits tot.« Einen internationalen Aufschrei, Empörung oder irgendwelche Forderungen gab es deswegen aber nicht.

 

Geopolitisches Werkzeug des Westens

Und das US-Imperium, in dessen Namen Bolton wild durch die Gegend drohte, wobei er von US-Außenminister Mike Pompeo kräftig unterstützt wurde – der IStGH sei »eine kaputte und korrupte Institution«, die »rechtswidrige Versuche« unternehme, um folgsame »Amerikaner seiner Gerichtsbarkeit zu unterwerfen«, so Pompeo –, bluffte nicht nur. Das durfte etwa die gambische IStGH-Chefanklägerin Fatou Bensouda samt ihrer Mitarbeiter feststellen. Bensouda wollte erstmals gegen Mitglieder der US-Streitkräfte und des US-Geheimdienstes CIA wegen nichts Geringerem als systematischer »Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit« im Ausland vorgehen. Das brachte ihr und ihren Kollegen dann mal eben ein Bündel an US-Sanktionen ein. Konkret wurde Besitz beschlagnahmt, also diverse Bankkonten eingefroren. Zuvor hatte man gegen Bensouda und ihr Team übrigens schon Einreiseverbote in USA verhängt.

 

Nachdem anfangs bei der Staatenkonferenz im Sommer 1998 in Rom 120 Staaten dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zustimmten und sich 21 Staaten enthielten, lehnten nur sieben Staaten, die USA, Irak, Libyen, Israel, Jemen, Katar und China, das Statut ab und stimmten dagegen. Heute sind etwa 60 Prozent der Staaten – es gibt eine Reihe von Ländern, deren Status als selbstständiger Staat, sagen wir, international nicht ganz geklärt ist – Unterzeichner des Römischen Statuts. Und es werden weniger.

 

Der IStGH besaß also ohnehin nie eine universelle Gültigkeit. Außerdem ist das Gericht in Den Haag eigentlich nur so etwas wie ein geopolitisches Werkzeug des Westens, um andere mit Hingabe an den Pranger zu stellen. Zuletzt etwa den russischen Staatschef Wladimir Putin, gegen den unter fadenscheinigen Vorwürfen ein Haftbefehl erlassen wurde. Putin habe nichts dagegen unternommen, dass Kinder aus Kriegs- und Krisengebieten im Osten der Ukraine nach Russland transportiert wurden.

 

ASPA

Bis zum Jahr 2013 hatte der IStGH lediglich Verfahren gegen Afrikaner eröffnet, weshalb die Afrikanische Union dem IStGH sogar »eine Art von Rassenhetze« vorwarf, die AU Ende des Jahres 2017 einen kollektiven Austritt plante, einzelne afrikanische Länder bereits ausgetreten sind und sich andere den Austritt einstweilen vorbehalten. Ähnliche Vorwürfe und Gründe oder eben doch nur Dreck am Stecken, um den IStGH nicht anzuerkennen oder ihn zu verlassen, hatten dann noch so einige andere nicht afrikanische Staaten. Übrigens ist der IStGH als internationale Organisation kein Teil der Vereinten Nationen, die über ihren Generalsekretär António Guterres im Fall Bensouda immerhin ausrichten ließen, dass man das US-Vorgehen gegen die IStGH-Chefanklägerin »beobachten« würde. Und der IStGH hat, das sei erwähnt, auch nichts mit den spontanen internationalen Strafgerichten zu tun, die sich mit dem ehemaligen Jugoslawien oder Ruanda befassten.

 

Warum man den IStGH in Sachen globaler Gerechtigkeit aber auch so ziemlich vergessen kann, veranschaulicht der »American Service-Members’ Protection Act« (ASPA), ein Schutzgesetz für US-amerikanische Dienstangehörige. Mit ihm behält sich Washington nämlich nicht nur das Recht vor, Mitglieder der US-Regierung, des US-Militärs und weitere offizielle US-Vertreter vor einer Auslieferung an den IStGH zu schützen. ASPA ermächtigt den US-Präsidenten zudem, alle erforderlichen Mittel anzuwenden, einschließlich einer militärischen Invasion, um in Den Haag angeklagte US-Bürger gewaltsam zu befreien. Immerhin haben die USA das Römische Statut ja nicht ratifiziert, womit nichts anderes gemeint ist, als dass man es nicht akzeptiert oder für nichtig erklärt hat und schlicht darauf pfeift. ASPA, das in bestimmten Kreisen auch als »Den-Haag-Invasionsgesetz« bekannt ist, wurde im August 2002 vom damaligen US-Präsidenten George Walker Bush, dem Sohn des 41. US-Präsidenten George Herbert Walker Bush, in Kraft gesetzt. Wie um alles in der Welt sollte also ein US-Bürger, etwa der dubiose Bush-Clan selbst, dort jemals zur Rechenschaft gezogen werden? Und wer würde Den Haag dann gegen die US-Armee verteidigen? Die Niederländer womöglich? Besser nicht.

 

Private oder semi-private Söldnertruppen

Eigentlich müsste das Pentagon in den Niederlanden ja gar nicht einmarschieren lassen. Sie sind mit ihrem Personal schon da, also mit 651 Soldaten und Zivilisten. Im benachbarten Belgien sind es sogar 1.869 und in Deutschland exakt 47.925 Männer und Frauen, wie das Pentagon regelmäßig und zuletzt mit Stand vom 30. Juni 2022 aufzählt. Weltweit sind insgesamt 229.152 Personen des US-Militärapparats auf mindestens 176 Nationen verteilt im Einsatz. Mindestens deshalb, weil das Pentagon den Standort von 12.126 Personen mit »undefined« angibt, also geheim hält. Nur Mit-Weltkriegs-Verlierer Japan ist mit 62.722 US-Militärangehörigen noch besetzter als Deutschland. In Südkorea sind es 28.844, in Italien 15.074, in Puerto Rico 13.715, in Guatemala 11.442, in Großbritannien 11.253, in Bahrain 4.240, in Spanien 3.961 und in der Türkei 1.797 US-Damen und Herren auf US-Basen oder sonst wo im Land verteilt. Aber nicht vergessen: Das heimliche Heer der »Undefinierten«, vermutlich Spezialeinheiten und Geheimagenten, versteckt sich ja auch noch irgendwo. Das US-Imperium hat sich also in fast 90 Prozent aller Länder des Planeten breitgemacht und eine gigantische Drohkulisse aufgebaut, damit auch bloß kein anderes Regime auf allzu dumme Gedanken kommt. In den USA selbst zählte das Pentagon im Sommer 2022 übrigens 2.461.083 Damen und Herren unter seiner Fuchtel auf, vermutlich so gut wie alle unter scharfen Waffen.

 

Hinzu kommen, das darf auf keinen Fall vergessen werden, die immer beliebteren Söldnertrupps im Auftrag des US-Verteidigungsministeriums. Private oder semi-private Sicherheitsfirmen wie Academi. Wohl einigen noch besser bekannt unter dem alten Namen Blackwater. Die sahnen an globalen Kriegen und Konflikten nämlich richtig ab und sind in sämtlichen Krisenherden der Welt zu finden. Warum? Damit sich die Regierungen, etwa die US-Regierung, der parlamentarischen Aufsicht entziehen können. Falls das überhaupt noch eine Rolle spielen sollte und irgendjemanden juckt. Schon im Jahr 2010 waren im Ausland weit mehr Söldner für die USA aktiv als eigene Soldaten. Angeblich.

 

Aber wir waren ja noch beim Internationalen Strafgericht, auch wenn die Verbrechen des Academi– und Konsorten-Personals genauso angeklagt gehörten. Der IStGH ist nämlich nicht mit dem Internationalen Gerichtshof, dem IGH, zu verwechseln. Zwar sind beide Höfe, der Zufall will es so, in Den Haag. Der IGH ist jedoch das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen und deswegen für die Charta der Vereinten Nationen zuständig.

 

Überlegenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt

Nun sitzen die Vereinten Nationen mit ihrem Hauptquartier ohnehin schon in New York, also im Zentrum der USA. Damit in Zukunft aber auch vom IGH keine juristische Gefahr für das US-Imperium zu befürchten ist, schwingt dort die US-amerikanische Juristin Joan Donoghue den Hammer. Zurzeit mit Leidenschaft und Vorgeschichte. Was die Sache nicht besser macht: Donoghue war bereits seit den 1980er Jahren in diversen Positionen für das US-Außenministerium tätig. Zum Beispiel als Beraterin in völkerrechtlichen Angelegenheiten, wenn es etwa um diverse US-Folterkammern ging. Und zu den Folterungen kommen wir noch.

 

Um eine unabhängige und gerechte internationale Rechtsprechung ist es unter diesen Umständen also recht schlecht bestellt. Ziemlich schlecht sogar. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler und Autor Samuel Huntington drückte es in seinem Buch »Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert« beispielsweise so aus:

 

»Der Westen eroberte die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen oder Werte oder seiner Religion, sondern vielmehr durch seine Überlegenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt. Westler vergessen diese Tatsache oft; Nichtwestler vergessen sie niemals.«

 

Schließlich folgt der Eroberung fremder und ferner Länder und Gesellschaften noch die Zersetzung. Die Schießpulver-Invasionen der Europäer führten ja auf dem gesamten amerikanischen Kontinent, in Ozeanien und teilweise auch in Afrika dazu, dass die Sprache, die Religion und die Lebensweise der heimischen Kulturen entweder komplett ausgelöscht oder zumindest weg- und eingesperrt wurden. In Reservaten wie der Endstation für »Sitting Bull« und seine Leute. Die Europäer waren ja nicht gekommen, um Freundschaften zu schließen oder die Freiheit der Völker zu verkünden, gar zu feiern.

 

Unterwürfige Bedientenseelen

Die beiden deutschen Historiker und Journalisten Karl Marx und Friedrich Engels schrieben, es muss so in der Mitte des 19. Jahrhundert gewesen sein, dass die Gedanken der Herrschenden in jeder Epoche auch zu den herrschenden Gedanken werden. Das schließt die Geschichtsschreibung, die Gerichtsbarkeit und einfach alles, was von Bedeutung ist, um der Herrschaft von Menschen über andere Menschen einen Schein von Rechtmäßigkeit zu geben, selbstverständlich mit ein. Sogar vor Kinderköpfen macht man nicht halt. Natürlich nicht. Besonders wichtig ist dabei nämlich die Aus-Bildung, um möglichst früh zu konditionieren und anzugewöhnen. Auch der deutsche Journalist, Schriftsteller und Philosoph Johann Caspar Schmidt (alias Max Stirner) schrieb im Jahr 1842 in »Das unwahre Princip unserer Erziehung«:

 

»Im Gegenteil, verständige Leute zu erziehen, das soll genügen; auf vernünftige Menschen ist’s nicht eigentlich abgesehen […] Wie in gewissen anderen Sphären, so lässt man auch in der pädagogischen die Freiheit nicht zum Durchbruch, die Kraft der Opposition nicht zu Worte kommen: man will Unterwürfigkeit. Nur ein formelles und materielles Abrichten wird bezweckt, und nur Gelehrte gehen aus den Menagerien der Humanisten, nur ›brauchbare Bürger‹ aus denen der Realisten hervor, die doch beide nichts als unterwürfige Menschen sind. Unser guter Fond von Ungezogenheit wird gewaltsam erstickt und mit ihm die Entwicklung des Wissens zum freien Willen. Resultat des Schullebens ist dann das Philistertum. Wie wir uns in der Kindheit in alles zu finden gewöhnten, was uns aufgegeben wurde, so finden und schicken wir uns später ins positive Leben, schicken uns in die Zeit, werden ihre Knechte und sogenannte gute Bürger. Wo wird denn an Stelle der bisher genährten Unterwürfigkeit ein Oppositionsgeist gestärkt, wo wird statt des lernenden Menschen ein schaffender erzogen, wo verwandelt sich der Lehrer in den Mitarbeiter, wo erkennt er das Wissen als umschlagend in das Wollen, wo gilt der freie Mensch als Ziel, und nicht der blos gebildete? Leider nur erst an wenigen Orten.«

 

Und daran hat sich ja nicht wirklich viel geändert. Wenn überhaupt! Weiter heißt es bei Stirner:

 

»Weckt man in den Menschen die Idee der Freiheit, so werden die Freien sich auch unablässig immer wieder selbst befreien; macht man sie hingegen nur gebildet, so werden sie sich auf höchst gebildete und feine Weise allezeit den Umständen anpassen und zu unterwürfigen Bedientenseelen ausarten. Was sind unsere geistreichen und gebildeten Subjekte grösstentheils? Hohnlächelnde Sklavenbesitzer und selber – Sklaven.«

 

Und es sind ja für gewöhnlich die herrschenden Kreise, die bestimmen, was in ihrem System gelehrt, gelesen und gehört wird, wer oder was zur Wahl steht oder eben nicht und wessen Regeln gelten. Ganz besonders aber, wer das Gewaltmonopol besitzt. Wie meinte doch die mährisch-österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach so schön zum Glück der Sklaven: »Die glücklichen Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit.«

 

 

Mein Beitrag erschein bei Overton.

 

SUPPORT MY COURSE

 

 

Hier kann man das Buch bestellen: Als Taschenbuch oder als E-Book.