Ein Gespräch mit Yuri Pérez Martínez, Professor für Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Universität von Havanna und EU-Beauftragter Kubas für Menschenrechte, in Berlin über die neue kubanische Verfassung. Das Interview führte Flo Osrainik.
Flo Osrainik: Herr Pérez, Sie sind Professor für Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Universität von Havanna und EU-Beauftragter Kubas für Menschenrechte. Kuba hat seit Anfang des Jahres eine neue Verfassung. Können Sie den Prozess der Verfassungsänderung einführend bitte kurz einordnen und zusammenfassen?
Yuri Pérez Martínez: Zunächst möchte ich mich für das Interview bedanken. Der Prozess, der zur Verfassungsänderung führte, ist grundsätzlich sehr wichtig, um die Situation auf Kuba richtig verstehen zu können. Am 24. Februar 2019 wurde eine neue Verfassung angekündigt, die auf Grundlage der alten Verfassung des Jahres 1976 entstand. Während des kompletten Prozesses gab es eine große Teilnahme der gesamten kubanischen Bevölkerung. Man hat Anregungen und Vorschläge gesammelt, diskutiert und eingebracht. Am Ende wurden dann 60 Prozent des ursprünglichen Verfassungstextes abgeändert, und es stimmten rund 90 Prozent der Annahme des vorgelegten Verfassungsentwurfes zu.
Flo Osrainik: Welche Themen wurden dabei am häufigsten diskutiert?
Yuri Pérez Martínez: Es gab mehrere Themen, die viel und oft besprochen wurden. Am häufigsten wurde aber die gleichgeschlechtliche Ehe diskutiert. Es war schwierig, dieses Thema anzugehen, weil Kuba ein patriarchisch geprägtes Land ist. Das hat sich selbst nach 60 Jahren Revolution nicht geändert und ist auch heute noch Bestandteil der kubanischen Kultur. Ein Großteil der Bevölkerung hat die gleichgeschlechtliche Ehe nicht akzeptiert.
Der neue Verfassungstext wurde trotzdem geschlechtsneutral formuliert. Es ist lediglich von einem freiwilligen Zusammenleben zweier Menschen die Rede. Das Geschlecht wurde bei der Eheformulierung also bewusst offengelassen, und es ist die Aufgabe der Gesetzgebung, diesen Bereich genauer zu bestimmen. Ich denke aber, dass die gleichgeschlechtliche Ehe in den nächsten Jahren weiterhin ein Thema für uns bleibt.
Ein anderes, viel diskutiertes Thema war die Beschränkung der Amtszeit des Präsidenten. Bisher konnte der Präsident mehrmals gewählt werden. Neu ist nun, dass die Amtszeit auf maximal zwei Wahlperioden limitiert wurde. Allerdings hat sich die Bevölkerung bei der ersten Befragung mehrheitlich gegen eine zeitliche Beschränkung geäußert, was für die Legitimität der Regierung spricht. Am Ende wurde aber eine Obergrenze von zwei Amtszeiten in Folge für eine Präsidentschaft beschlossen.
Das Alter des Präsidenten war auch ein Thema in der Bevölkerung. Das Mindestalter für eine Präsidentschaft wurde auf 35 Jahre festgesetzt, die Obergrenze auf 60 Jahre. Dieses Ergebnis ist auch eine Projektion der politischen Erneuerung innerhalb Kubas.
Flo Osrainik: Wie wichtig waren den Kubanern soziale und ökonomische Themen?
Yuri Pérez Martínez: Das Recht auf ein würdevolles Wohnen war ein weiteres wichtiges Thema für die Menschen. Auch dieser Bereich wird im neuen Verfassungstext reguliert. Interessant ist dabei, dass das kubanische Volk interne Fähigkeiten sowie äußere Umstände erkennt, die ein Vorankommen der kubanischen Gesellschaft ermöglichen und verhindern. Unserer Bevölkerung ist sehr wohl bewusst, und das finde ich äußerst bemerkenswert, dass die US-Blockade gegen Kuba als Haupthindernis für eine Entwicklung auf der sozioökonomischen Ebene wahrgenommen wird. Die meisten Kubaner sehen das so.
Auf der anderen Seite werden mit der neuen Verfassung auch die Fähigkeiten des Staates, entsprechend zu seinen Ressourcen, deutlich, um allen Bürgern ein möglichst würdevolles Wohnen zu gewährleisten. Das hat der Staat jedem Kubaner langfristig sicherzustellen. Meiner Meinung ist das, auch in Bezug auf die Menschenrechte, ein Zeichen des Fortschritts.
Flo Osrainik: Was hat sich in Bezug auf die Menschenrechte in der Verfassung denn konkret geändert?
Yuri Pérez Martínez: Es wurde nun explizit festgehalten, dass es ein Recht auf ein würdevolles Wohnen gibt und der Staat dafür zu sorgen hat. In der alten Verfassung gab es zwar einen Teil, der darauf Bezug nahm, es wurde aber nur sehr allgemein formuliert, dass der Staat darauf hinarbeitet. Es war also nicht so spezifisch wie im neuen Verfassungstext. Dabei war in ersten Vorschlägen für die neue Verfassung noch von einem angemessenen Wohnen die Rede. Das wurde im weiteren Verlauf durch ein menschenwürdiges Wohnen für alle Bürger Kubas ersetzt. Im Vorwort der neuen Verfassung wird übrigens schon festgehalten, dass die kubanische Bevölkerung in Würde leben soll. Dieser Gedanke in der Präambel stellt die Grundlage der gesamten neuen Verfassung dar.
Flo Osrainik: Was hat sich in Bezug auf die politische Mitbestimmung der Menschen im Land geändert?
Yuri Pérez Martínez: Ein weiterer wichtiger Punkt in der neuen Verfassung ist die Struktur des Staates. In Kuba gibt es einen Staatschef, allerdings nicht im Sinne der parlamentarischen Struktur. Neu hinzugekommen ist jetzt das Amt des Premierministers als Regierungschef. Und dann gibt es natürlich noch die Generalversammlung. Alle drei Instanzen, also Staatschef, Premierminister und Generalversammlung handeln in Bezug auf die politische Leitung des Landes, womit eine neue Dimension und somit mehr politische Partizipation der Bürger ermöglicht wird.
Aber auch innerhalb der Leitung gibt es Demokratie. Bezüglich der legislativen Mitbestimmung reichen zum Beispiel 10.000 gesammelte Unterschriften, um eine Veränderung anzustoßen. Und um ein Referendum abhalten zu können, benötigt man Unterschriften von 50.000 Menschen. Das ist im Vergleich zu anderen Ländern, besonders in Lateinamerika, relativ wenig. Ich glaube, es ist auch wichtig, zu sagen, dass der neue Verfassungstext der kubanischen Realität, also den heutigen Gegebenheiten und Umstände entspricht.
Flo Osrainik: Unter dem Begriff Sozialismus kann man Unterschiedliches verstehen. Im Kapitalismus sieht man dabei in der Regel trotzdem rot. Wie versteht man den kubanischen Sozialismus denn laut der neuen Verfassung?
Yuri Pérez Martínez: Mit der neuen Verfassung legen wir alles beiseite, was bisher in Bezug auf andere Länder mit Sozialismus in Verbindung gebracht wurde. Das haben wir ganz neu definiert. Oder anders gesagt: Wir machen nicht das nach, was in sozialistischen Ländern im Osten Europas gemacht wurde. Wir definieren uns aus einer anderen und neuen Sichtweise heraus selbst. Und das alles auf Grundlage unserer eigenen Realität. Die Prinzipien und Traditionen der kubanischen Revolution behalten wir dabei trotzdem unverändert aufrecht.
Was allerdings nicht unverändert bleibt und neu in unsere Verfassung aufgenommen wurde, ist der Bereich des privaten Eigentums. Staatliches Eigentum bleibt zwar nach wie vor zentral und grundlegend in unserer Verfassung, das Privateigentum bildet aber eine sinnvolle Ergänzung dazu. Der Staat muss die Einhaltung der Rechte aller Bürger weiterhin garantieren, und der private Sektor hat auf jeden Fall die Aufgabe, den Staat dabei zu ergänzen.
Der Sozialismus auf Kuba führt zu keiner Restriktion der Bürger, sondern erhebt die individuellen Rechte und achtet diese. Mit dem Recht auf Privateigentum gewährleisten wir also einen sozialistischen Rechtsstaat. So wird es in der neuen Verfassung definiert.
Flo Osrainik: In Guantánamo befindet sich noch immer ein US-Militärstützpunkt. Was hat sich in der Verfassung in Bezug auf den Status und die Bemühungen Kubas um Guantánamo verändert?
Yuri Pérez Martínez: Im Jahr 1901 gab es eine Ergänzung zur bestehenden kubanischen Verfassung, veranlasst durch die US-Regierung. Damit gab man den USA das Recht, Kohleverarbeitungsanlagen und Marinestützpunkte in der Region zu betreiben. Darum ging es im Kern dieses Vertrags. Die Ergänzung bestand bis zum Sieg der Revolution im Jahr 1959. Bis dahin haben sich verschiedene progressive Bewegungen und Kräfte gegen diese Verfassungsergänzung und die tatsächliche Besatzung Kubas durch die USA geäußert. Auf der Insel gab es damals eine starke US-Präsenz. Die kubanischen Regierungen hatten enge Beziehungen mit den US-Regierungen. Das hat es den USA ermöglicht, in Kuba mittelbar zu regieren und in mehreren Teilen des Landes US-Stützpunkte zu unterhalten. Die Stützpunkte in Guantánamo waren, wegen der strategischen Lage der Bucht, wichtig und vorteilhaft für die USA. Seit dem Sieg der Revolution hat die Regierung die US-Präsenz und die Verfassungsergänzung verurteilt und sich dagegen geäußert. Das hat sich bis heute nicht geändert.
Im Jahr 1976 gab es dann eine neue Verfassung in Kuba, wobei man um die Souveränität des Landes bemüht war. Damals wurde aber lediglich ein Anspruch auf die Souveränität Kubas formuliert. In der neuen Verfassung von 2019 gibt es jetzt ein Kapitel über die internationalen Beziehungen. Darin wird anerkannt, dass Kuba die Souveränität über sein gesamtes Territorium hat. Das heißt, dass man Guantánamo als kubanisches Gebiet betrachtet. Es gehört heute zum Text der Verfassung, dass Kuba auf seinem gesamten Territorium Jurisdiktion haben sollte beziehungsweise ein Recht darauf hat. Die illegale Besatzung Guantánamos durch die USA wird aber nicht nur in der Verfassung, sondern in jedem Bereich der politischen Diskussion und in der Gesellschaft verurteilt.
Laut Artikel 12 der neuen Verfassung erklärt die kubanische Republik, dass sie keine Verträge oder Vereinbarungen anerkennen und auch für nichtig erklären wird, die gegen die Souveränität des Landes verstoßen.
Als diese Ergänzung der Verfassung Anfang des letzten Jahrhunderts hinzugefügt wurde, waren die Umstände in Kuba ganz andere als heute. Aus diesem Grund ist dieser Zusatz auch nicht mehr gültig. Wir verurteilen diese Besatzung, weil man in Guantánamo gegen die Menschenrechte und auch gegen das Völkerrecht verstößt, da es sich um kubanisches Territorium handelt.
Flo Osrainik: Welche Rolle spielen die Exilkubaner, etwa in Miami, auch in Bezug auf ihre Rechte als Kubaner?
Yuri Pérez Martínez: In Kuba gibt es ein Prinzip der sogenannten effektiven Staatsbürgerschaft. Das heißt, dass jeder kubanische Staatsbürger auch andere, also zwei oder drei weitere Staatsbürgerschaften haben kann. Dieses Recht gilt für jede Person. Wenn man aber nach Kuba reist oder dort wohnt, dann gilt nur die kubanische Staatsbürgerschaft. Das ist auch in der neuen Verfassung so geregelt. Meiner Meinung nach ist die neue Verfassung, was die Exilkubaner betrifft, offener und vielfältiger, da der kubanische Staat keine Einwände gegen mehrere Staatsbürgerschaften eines Bürgers hat. Man hat allerdings auch die Möglichkeit, seine kubanische Staatsbürgerschaft abzulegen.
Beim Prozess des Verfassungsreferendums wurden übrigens alle Kubaner, ob innerhalb oder außerhalb Kubas, befragt. Nicht nur die Kubaner in Miami, auch die Kubaner in Deutschland und in anderen Teilen der Welt. Alle hatten also das Recht, in der Befragungsphase teilzunehmen und sich zu äußern oder Empfehlungen für die neue Verfassung abzugeben. Die Ausübung des Wahlrechts steht dagegen nur den im Land lebenden Kubanern zu, was auch die Abstimmung über die neue Verfassung betraf.
Grundsätzlich gelten die Rechte der neuen Verfassung, solange sich diese nicht mit anderen Rechten oder Gesetzen, etwa zur nationalen Sicherheit oder des öffentlichen Interesses, überschneiden.
In Bezug auf Guantánamo gibt es übrigens einige Exilkubaner, die der Meinung sind, dass dieses Gebiet den USA gehören würde. Diese Meinung können wir allerdings nicht teilen, und aus Sicht der neuen Verfassung kann dieser Anspruch auch nicht anerkannt werden.
Flo Osrainik: Wie sah es denn mit der Wahlbeteiligung, also der Akzeptanz des Verfassungsreferendums aus?
Yuri Pérez Martínez: Auch auf Kuba generiert die Demokratie gewisse Konflikte. Trotzdem haben 86,6 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme für die neue Verfassung abgegeben, was die Legitimität verdeutlicht. Es war aber von vornherein Voraussetzung, dass der neue Verfassungstext von einer Mehrheit verabschiedet werden musste. Das heißt, dass die Wünsche und Absichten der Minderheit zwar auch beachtet wurden, entscheidend aber trotzdem die Mehrheit war.
Flo Osrainik: Vielen Dank für das Gespräch.
Mein Beitrag erschien bei RT Deutsch.
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