»Klare Tendenz hin zum Kontrollstaat«

Bundesinnenminister de Maizière will für mehr Sicherheit in der Bundesrepublik sorgen und fordert die Ausweitung der Überwachung und Einschränkung der Bürgerrechte. Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, hinterfragt im Interview die Wirksamkeit dieser Ansätze.

 

Flo Osrainik: Frau Jelpke, Bundesinnenminister de Maizière bezieht sich bei seiner Berliner Erklärung vom 11. August 2016 auf die Vorfälle von Ansbach, Würzburg und München. Handelte es sich bei diesen Ereignissen aus Ihrer Sicht um typische Terrorattacken oder eher um Amokläufe psychisch labiler junger Menschen? Hätten die Angriffe durch mehr Überwachung verhindert werden können?

 

Ulla Jelpke: Zumindest die Täter von Ansbach und Würzburg hatten ja offensichtlich politische Motive und standen dschihadistischem Gedankengut nahe. Ich würde sie deswegen nicht einfach als psychisch labile Amokläufer betrachten. Inwieweit sie tatsächlich dem »Islamischen Staat« nahestanden oder ihm gar angehörten, ist eine andere Frage. Unabhängig davon ist es natürlich legitim, Sicherheit auch vor Einzeltätern zu fordern.

 

Die Lösungsvorschläge der Union taugen aus meiner Sicht aber nicht dafür. Mehr Überwachung hätte in diesen Fällen auch nichts geholfen, schließlich waren die Täter vorher allesamt nicht polizeilich aufgefallen und ihre Taten so gut wie nicht vorhersehbar. Und die sogenannte Schnellradikalisierung könnte man nur aufspüren, wenn man zum Beispiel das Internetverhalten aller Bürgerinnen und Bürger rund um die Uhr komplett überwacht. Leider ist zu befürchten, dass der Zug genau in diese Richtung geht, wenn die Union das Sagen hat. Das wäre aber faktisch die Aufgabe unserer grundgesetzlichen Freiheitsrechte.

 

Flo Osrainik: In der Regel kann doch erst nach einem Verbrechen geklärt werden, ob es sich um einen Terroranschlag gehandelt hat. Häufig ist aber schon bei Bekanntwerden der Nachricht von Terrorismus die Rede. Wird die terroristische Gefahrenlage in Deutschland – mit Blick auf bisherige islamistisch motivierte Anschläge – übertrieben? Findet ein Spiel mit der Angst der Menschen statt?

 

Ulla Jelpke: Wenn die Politik mehr Überwachungsgesetze fordert, braucht sie dafür natürlich auch Anlässe. In diesem Sinne haben Law-and-Order-Politiker ein Interesse daran, der Bevölkerung eine hohe Gefährdungslage zu vermitteln. Da ist dann die Gefahr groß, dass auch vergleichsweise harmlose Lagen aufgebauscht werden, oder unbestätigte Meldungen von Geheimdiensten eins zu eins übernommen werden. Das haben wir ja auch schon erlebt, beispielsweise bei der Absage des Fußball-Länderspiels gegen die Niederlande im vergangenen November.

 

Selbst ich als Parlamentarierin habe noch nicht einmal im Nachhinein eine umfassende Aufklärung dafür bekommen, wie viel an den auf obskure Geheimdienstmeldungen zurückgehenden Gefahrenmeldungen nun wirklich dran war. Es ist ja im Einzelfall fast unmöglich, zu beweisen, ob ein Anschlag konkret gedroht hat. Diese Intransparenz macht es den Herrschenden einfach, über Angst- oder Sicherheitsgefühle der Bürger mit zu entscheiden. Dabei muss man beachten, dass diese Logik von vielen Medien übernommen wird, die ihrerseits schon aus Gründen der Auflagensteigerung möglichst drastische Überschriften wählen. Dazu kommen dann noch Meldungen aus trüben Quellen in sozialen Medien, bei denen sowieso zwischen Gerüchten und Fakten meist nicht unterschieden wird.

 

Flo Osrainik: Ist ein Ausbau der Videoüberwachung im öffentlichen Raum oder ein System zur Gesichtserkennung, wie von de Maizière gefordert, nötig? Lassen sich Terroristen von Kameras aufhalten?

 

Ulla Jelpke: Selbstmordattentäter haben ja praktisch sowieso schon alle Hemmungen fallen lassen. Die legen es ja gerade darauf an, dass ihre Verantwortung für ein Attentat bekannt wird. Andere Attentäter werden sich dann eben Maskeraden und Verkleidungen überlegen. Ansonsten kann ich mir vielleicht vorstellen, dass es möglich ist, einen potentiellen Ladendieb durch eine Überwachungskamera abzuschrecken.

 

Aber wer entschlossen ist, viele Menschen mit sich in den Tod zu reißen, wird sich bestimmt nicht von einer Kamera davon abhalten lassen. Einige solcher Attentäter, etwa in Frankreich, hatten sogar vorher noch Videos von sich aufgenommen. Hier könnte eine Überwachungskamera sogar noch zusätzlich motivierend wirken, da viele Attentäter ja gerade Öffentlichkeit suchen und ihre Taten medial publik machen wollen.

 

Videoüberwachung im öffentlichen Raum kann allenfalls hinterher die Aufklärung unterstützen. Aber der Preis dafür wäre, überall, wo es potentiell einen Anschlag geben könnte – und das ist schlicht und einfach überall – Kameras aufzustellen. Kommt dann noch die Gesichtserkennungs-Software dazu, haben wir die besten Voraussetzungen für eine lückenlose Überwachung aller Einwohner. Das wäre dann der Abschied vom Datenschutz und vom Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.

 

Flo Osrainik: Bei Überprüfungsentscheidungen der Datenschützer müssen aus Sicht von de Maizière »Sicherheitsbelange stärker und gewichtiger in die durchzuführende Abwägungsentscheidung eingehen.« Bürgerrechte sollen weiterhin einem Gefühl von Sicherheit – auch der Minister räumt ein, dass es keine absolute Sicherheit geben kann – weichen? Steckt dahinter System, um einen Überwachungsstaat zu etablieren?

 

Ulla Jelpke: Der Innenminister ist ja seit Jahren auf Konfrontationskurs mit dem Datenschutz. Das gilt übrigens nicht nur für de Maizière, sondern auch für seine Vorgänger. Ich möchte nur daran erinnern, dass fast jedes gewichtige Überwachungsgesetz, das seit 2001 beschlossen wurde, vom Bundesverfassungsgericht gestutzt wurde.

 

Allerdings wurden die Gesetze häufig nicht in Gänze verworfen. Vorratsdatenspeicherung, Passagierdatenerfassung, gemeinsame Gremien und Datenbanken von Polizei und Geheimdiensten usw. – das zeugt von einer klaren Tendenz weg vom freiheitlichen Rechtsstaat hin zum Kontrollstaat, der den Anspruch hat, möglichst zu jedem Zeitpunkt über Aufenthaltsort und Tätigkeit seiner Bürger informiert zu sein. Spätestens dann sind wir bei George Orwells »1984« angelangt.

 

Flo Osrainik: Der Bundesinnenminister sagt, dass seine Maßnahmen »schnell und absehbar zu mehr Sicherheit in Deutschland führen«. Teilen Sie diese Einschätzung?

 

Ulla Jelpke: Diese Maßnahmen werden schnell und absehbar zu einem weiteren Verlust unserer Grundrechte führen. Ich kann überhaupt nicht erkennen, dass sie tatsächlich geeignet sind, mehr Sicherheit herbeizuführen. Das heißt, wir zahlen einen hohen Preis, ohne irgendetwas dafür zu bekommen.

 

Flo Osrainik: Was müsste Ihrer Meinung nach getan werden?

 

Ulla Jelpke: Man muss endlich aufhören, sich über immer schärfere Gesetze Gedanken zu machen. Zur Strafverfolgung haben wir wirklich schon genügend Regelungen. Stattdessen muss man mal einen Schritt zurücktreten und darüber nachdenken, wie man den Ursachen von Terrorismus begegnen kann.

 

Und da gibt es vieles, was getan werden müsste: Ein Waffenexportstopp, gerechtere Handelsbeziehungen, Beendigung der Militäreinsätze, verstärkte Integrationsbemühungen in Deutschland, aber zum Beispiel auch mehr Mittel für Projekte, um islamistischer Radikalisierung vorzubeugen oder sie zu bekämpfen. Ein Sozialarbeiter hilft jedenfalls mehr als ein neuer Verfassungsschützer.

 

Flo Osrainik: Vielen Dank für das Interview.

 

 

Mein Beitrag erschien bei RT Deutsch.

 

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