Zwischen Frontlinien und Frontberichten

»In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.« — Egon Bahr, im Jahr 2013 vor Schülern

 

Text: Lilly Gebert

Die Wahrheit beginnt dort, wo das mediale Rauschen endet. Wo nicht mehr die eingeübten Narrative das Weltgeschehen deuten, sondern der einzelne Mensch, der erzählen darf – von seiner konkreten Not, seinem Zögern und seinem Trotz.

 

»Donbassdonner«, Flo Osrainiks neues Buch, versucht genau das: die verwaisten Stimmen hörbar zu machen, die unter der offiziellen Geschichtsschreibung begraben wurden – im Schatten jenes Krieges, der längst als «Russlands Überfall auf die Ukraine» in den Stein der westlichen Schlagzeilen gemeisselt scheint.

 

Denn ja, es ist wie wir gelernt haben: Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Ihr verpflichtet, erzählt Osrainik aus der Tiefe einer Region, die seit 2014 im Ausnahmezustand lebt – nicht nur militärisch, sondern auch moralisch. Die Menschen im Donbass, deren Perspektive im medialen Westen kaum vorkommt, stehen im Zentrum seiner Reportage. Sie sind Lehrer, Sanitäter, Grossmütter, Kinder, die gelernt haben, Granateneinschläge nach Geräusch und Richtung zu unterscheiden. Nach nur wenigen Seiten wird klar: Keine Opferstatistik kann das ersetzen, was hier an menschlicher Würde zwischen Osrainiks frontenerweichenden Zeilen auferscheint.

 

Denn was er beschreibt, ist nicht die simple Gegenversion zur westlichen Sicht, sondern ein ernstzunehmender Versuch, die Komplexität des Konflikts zu begreifen. Frei nach Heraklit, die Augen seien »genauere Zeugen als die Ohren«, führten ihn seine Recherchereisen zu einer Lebenswirklichkeit, die im westlichen Diskurs meist ausgeblendet wird: zu den Volksrepubliken Donezk und Lugansk, zu Gebieten, die in einer politischen Grauzone existieren, in denen nach wie vor jedoch Menschen leben. Menschen, deren Leben nicht weniger wert ist als das anderer Kriegsopfer. Ihre Geschichten erzählt Osrainik ohne Pathos oder Ideologie, dafür aber mit Haltung und Empathie – die Öffner jenes Raumes, der medial tagtäglich enger zu werden droht.

 

Mit Informationen hinterm Berge zu halten, sie gar zu verschweigen? Flo Osrainik scheint nichts ferner zu liegen. Womit es seine Haltung ist, die dieses Buch unbequem und damit notwendig werden lässt. Osrainik verschont seine Leser nicht damit, dass die ukrainische Regierung, unterstützt von westlichen Akteuren, sich auf nationalistische Milizen stützte, die als solche massgeblich am Beschuss ziviler Gebiete beteiligt waren. Vielmehr benennt er die strategische Instrumentalisierung des Konflikts durch geopolitische Interessen – von westlicher wie östlicher Seite. Wobei ihn vom blossen Anti-Establishment-Journalismus eines unterscheidet: sein menschlicher Blick. Mit keiner Zeile verurteilt Osrainik pauschal, mit keinem Wort vertieft er die Kerben in der vielerorts ohnehin schon stattgefundenen Meinungsbildung. Stattdessen beschreibt er stets konkret, befragt, dokumentiert – inmitten einer propagandistisch aufgeladenen Atmosphäre. Und schafft es dadurch, diese zumindest ein Stück weit zu entschärfen.

 

»Donbassdonner« ist kein Buch, das Komfortzonen bespielt. Dafür verlangt es dem Leser zu viel geistige Ehrlichkeit ab. Wer diese jedoch bereit ist zu entbehren und sich gemeinsam mit Osrainik auf eine Reise in den Donbass begibt, der erkennt: Die Wahrheit ist kein Monolith. Sie ist fragmentarisch, widersprüchlich und oft schmerzhaft. Wollen wir uns ihr jedoch annähern, müssen wir aufhören, uns mit einem einzigen Blickwinkel zufriedenzugeben. Und akzeptieren, dass Wahrheit und persönliches Gerechtigkeitsempfinden sowie Narrativ und Wirklichkeit nur selten unserer Erwartungshaltung von Kongruenz entsprechen.

 

»Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, und Sie nehmen ihm zu gleicher Zeit das Glück.« — Henrik Ibsen

 

Ich persönlich hoffe, dass Osrainiks Buch einen tatsächlichen Donner hervorrufen wird. Nicht im Donbass, sondern in den Hinterstübchen derer, die diesen im Donbass initiiert haben. Liefert sein Buch doch gerade in Zeiten, in denen geopolitische Narrative zunehmend moralisch aufgeladen und alternativlose Frontlinien gezeichnet werden, einen entscheidenden Beitrag zur Rückgewinnung kritischer Urteilskraft. Nicht im Sinne eines endgültigen Urteils, sondern als Einladung zum genauen Hinsehen, wo andere längst wegschauen.

 

Für »Donbassdonner« gibts eine klare Reiseempfehlung meinerseits – wenn auch für die meisten vielleicht nur dokumentarisch. Und der Journalist Flo Osrainik hat mit diesem Buch abermals unter Beweis gestellt, dass er sich zu Recht als Revolutionär wie Anarchisten bezeichnet.

 

 

Der Beitrag erschien auf auf DIE FREIEN.

 

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Hier kann man das Buch bestellen: Als Hardcover.