Zur Sicherung des Friedens müssen wir uns aus der Umklammerung der NATO lösen und erkennen, dass Deutschland und Russland Schicksalsgefährten sind.
Im Oktober 2019 ist das neue Buch, »Der Griff nach Eurasien: Die Hintergründe des ewigen Krieges gegen Russland« des Politologen und Publizisten Hermann Ploppa erschienen. Im Gespräch mit dem Rubikon bezeichnet der Autor das Verhalten der Bundesregierung gegenüber Russland als ein »Selbstmordkommando«. Anstatt die NATO weiter aufzurüsten und gegen Russland in Stellung zu bringen, sollte man das für Rüstung verschwendete Geld stattdessen für den »sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Wiederaufbau Europas« verwenden, so der Autor. Das Gespräch führte Flo Osrainik.
Flo Osrainik: Herr Ploppa, seit Oktober ist Ihr neues Buch »Der Griff nach Eurasien: Die Hintergründe des ewigen Krieges gegen Russland« erhältlich. Darin beschreiben Sie die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland in den letzten einhundert Jahren. Wie haben sich die Verhältnisse seitdem denn grob umrissen entwickelt?
Hermann Ploppa: Wir müssen uns zunächst einmal die Europakarte aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg vor Augen führen. Wir sehen dann, dass das zaristische Russland und das von Kaiser Wilhelm II. regierte Deutsche Reich damals direkte Nachbarn waren. Es herrschte reger Austausch. Die Grenzen waren offen. Russische Adlige absolvierten ihren Kuraufenthalt in Deutschland. Deutsche siedelten in den Weiten Russlands. Nicht unerwähnt lassen wollen wir auch die enge Verflochtenheit der Herrscherhäuser beider Länder. Diese Entwicklung wurde auch in Großbritannien und in den USA registriert.
Im Jahre 1904 warnte der englische Geopolitiker Halford Mackinder in einem viel beachteten Vortrag vor den neuen Potenzialen, die sich aus Eisenbahn- und Straßennetzen für kontinentale Nationen ergeben. Festlandstaaten wie Deutschland und Russland könnten mit den neuen Verkehrsmitteln ihre Rohstoffe, aber auch Truppenverbände viel schneller und effizienter hin und her bewegen. Die Wettbewerbsvorteile der Seemacht Großbritannien seien damit aufgebraucht.
Daraus ergibt sich für Mackinder folgende Agenda: Erstens, Großbritannien muss verhindern, dass sich Deutschland und Russland zusammentun. Die Verbindung deutscher Ingenieurkunst mit russischen Rohstoffen ergäbe eine neue Großmacht, gegen die der angloamerikanische Block keine Chance mehr hätte. Zweitens, wenn Großbritannien die enormen Rohstoffvorkommen der eurasischen Kontinentalplatte für sich selber nutzen will, muss es sich zur Unterstützung eine Art »Juniorpartner« auf dem europäischen Festland suchen, mit dem zusammen die Eroberung des von Mackinder so genannten »Herzlandes« gelingen könnte.
Nach dem Ersten Weltkrieg wird ein Gürtel von neu gegründeten Staaten zwischen Russland und Deutschland gelegt. Trotzdem gelingt den Regierungen Deutschlands und der neuen Sowjetunion mit dem Vertrag von Rapallo im Jahre 1922 eine enge militärische und wirtschaftliche Verbindung, die sich der Kontrolle der Westmächte entzieht. Die Westmächte unternehmen alles, um die Weimarer Republik von diesem Bündnis von Rapallo wegzubringen. Mit dem Dawes-Plan von 1924 und dem Young-Plan von 1930 wird Deutschland in eine direkte Abhängigkeit von US-amerikanischen Banken durch Kredite gebracht.
Es klingt sicher für manche Ohren ungewohnt, was ich jetzt sage: Mit der Machtergreifung durch Hitler im Jahre 1933 vollzieht sich eine enge Anbindung an die sogenannte westliche Wertegemeinschaft. Die militärischen und wirtschaftlichen Bindungen mit der Sowjetunion werden von heute auf gestern radikal gekappt.
Unter Hitler befinden sich jetzt die Autoindustrie zu siebzig Prozent und die Ölwirtschaft zu neunzig Prozent in angloamerikanischer Hand. Die deutsche Wirtschaft wird jetzt noch enger in die internationalen Stahl- und Kohlekartelle eingebunden und ist zudem Mitglied in der 1930 gegründeten Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel.
In der BIZ sitzen nun während des gesamten Krieges die Vorstände der Zentralbanken sämtlicher kriegführenden Staaten, Freund und Feind, friedlich vereint und sorgen dafür, dass alle Kombattanten immer zahlungsfähig bleiben, damit der Krieg nicht plötzlich wegen Insolvenz eines kriegführenden Staates vorzeitig beendet werden muss, wie dies im Ersten Weltkrieg kurzfristig der Fall war. Ein Blick in Adolf Hitlers programmatische Schrift »Mein Kampf« macht klar, dass Hitler dort die Agenda, die 1904 von Mackinder vorgegeben wurde, in seinen eigenen unbeholfenen Formulierungen als eigenes Programm wiedergibt.
Tatsächlich kam Hitler ja nach der kurzen Episode des Hitler-Stalin-Pakts auf die Agenda zurück, die Sowjetunion anzugreifen, die dortige Bevölkerung zu vernichten, um Platz zu schaffen für »arisch-reinrassige« Bauern, die den Westen mit Lebensmitteln versorgen.
Flo Osrainik.: Welche Funktion hat Deutschland denn im Verhältnis zwischen Russland und Europa, also gegenüber den sogenannten Westmächten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs?
Hermann Ploppa: Der Zweite Weltkrieg ging nicht zur vollen Zufriedenheit der Westmächte und der hinter ihnen stehenden Bankenkonsortien aus. Die Sowjetunion konnte sich gegen den Ansturm der Wehrmacht behaupten, und die Rote Armee stand in der Mitte Europas, in Berlin. Das war nicht mehr rückgängig zu machen. Ganz Europa war ein Trümmerhaufen. Nun begannen die USA und Großbritannien, Westeuropa, das man durch die Invasion in der Normandie vor dem Zugriff der Roten Armee »gerettet« hatte, durch supranationale Organisationen wie die NATO und die Montanunion und später der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) fest in den eigenen Orbit einzubinden.
Von Deutschland konnte man hierbei nur die amerikanische, britische und französische Besatzungszone in den eigenen Machtbereich integrieren. So wurde Deutschland geteilt und die neue Bundesrepublik wurde militärisch und wirtschaftlich als Frontstaat gegen Osteuropa aufgeplustert. Durch subtile Netzwerkorganisationen wie die Atlantikbrücke nahmen die Eliten der USA direkten Einfluss darauf, wer in Deutschland regieren und was an den Universitäten gelehrt werden durfte. Die Bundesrepublik war ein Tummelplatz westlicher Geheimdienste und paramilitärischer Geheimorganisationen, die im Kriegsfall gegen die östlichen Nachbarländer losschlagen sollten.
Das Spannende ist dabei immer wieder, dass von den US-Netzwerken installierte Politiker nach einer gewissen Zeit der USA-Begeisterung dazu übergingen, entweder mit Frankreich oder der Sowjetunion zusammenzuarbeiten, um auf diese Weise ein Stück nationale Souveränität wiederzuerlangen. Es ist ein spannender Krimi, mit welchen mehr oder weniger subtilen Tricks die westlichen Geheimdienste und Pressure Groups diese Versuche immer wieder zum Scheitern brachten.
Konrad Adenauer konspirierte mit dem französischen Präsidenten Charles de Gaulle; sein Nachfolger Ludwig Erhard ging auf Druck der deutschen Industrie auf das Liebeswerben des sowjetischen Führers Nikita Chruschtschow ein. Und Helmut Kohl hatte sich mit Michail Gorbatschow auf einen Deal geeinigt, der den Abmachungen von Rapallo durchaus ähnelte. Doch der von amerikanischen Beratern abhängige russische Präsident Boris Jelzin löste die Sowjetunion in einem Putsch einfach auf, und somit war Kohl der Partner abhandengekommen.
Flo Osrainik: Um in der Gegenwart zu bleiben: Nun hat die Regierung der Bundesrepublik Deutschland in Zusammenhang mit dem Berliner-Tiergartenmord ja vor Kurzem zwei russische Diplomaten ausgewiesen. In der Folge hat die Regierung Russlands dann zwei deutsche Diplomaten zum Verlassen des Landes aufgefordert. Wie bewerten Sie die jüngsten Vorgänge, auch in Bezug auf die Ereignisse und Beziehungen zwischen Deutschland und Russland in den letzten Jahren?
Hermann Ploppa: Die Reaktion der Bundesregierung auf den Tiergartenmord ist in rechtsstaatlichen, diplomatischen und staatsmännischen Begriffen ein Offenbarungseid. Die Regierung Merkel scheint nur noch ängstlich auf jedes Lidzucken des gütigen Hegemons aus Washington zu schauen und tritt in vorauseilendem Gehorsam alle Regeln einer guten Diplomatie mit Füßen.
Wir können wirklich froh sein, dass der russische Präsident in geradezu buddhistischer Gelassenheit alle ungerechtfertigten Verbalinjurien beflissener deutscher US-Vasallen an sich abprallen lässt und nicht in gleicher Münze heimzahlt.
Dabei hat Angela Merkel wie alle ihre Amtsvorgänger nach anfänglicher Begeisterung für die USA spätestens mit der Ausspähung ihres privaten Mobiltelefons durch US-Geheimdienste eine massive Ernüchterungsphase absolviert. Sie verordnete als Konsequenz aus dieser Erfahrung den Aufbau eines deutschen Nachrichtensatelliten Georg für den Bundesnachrichtendienst, um von den Nachrichtenbrosamen, die der US-Nachrichtendienst NSA in freundlicher Herablassung je nach Lust und Laune auf die deutschen Geheimdienste herabregnen ließ, unabhängig zu werden. Zudem hat Merkel gegen den massiven Erpressungsdruck ihrer amerikanischen Freunde in die neue von China inspirierte Asiatische Infrastruktur Investitionsbank eine milliardenschwere Einlage gezahlt. Damit hat sie Deutschland ein Türchen zu den eurasischen Zukunftsmärkten offen gehalten.
Wir wissen ja nicht, was sich Angela Merkel und Wladimir Putin off the record so zutuscheln. Aber das offizielle Verhalten der Bundesregierung gegenüber Russland ist ein Selbstmordkommando. Denn durch die Sanktionen gegen Russland ist die deutsche Wirtschaft bedeutend mehr geschädigt. Russland hat den Weg zu den Zukunftsmärkten in Eurasien jederzeit offen. Deutschland ist im Schwitzkasten des US-Netzwerksystems. Eingeklemmt zwischen westeuropäischen Ländern, die ihre eigenen Interessen aggressiv vertreten, und den Ländern des von Donald Rumsfeld so genannten »Neuen Europas«. Also der Gürtel von Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes, die seit der Wende 1990 von Eliten aus USA-hörigen und marktradikalen Netzwerkorganisationen beherrscht werden, und die sich den USA auf Kosten des »Alten Europas« andienen.
Wenn wir uns aus diesem Schwitzkasten nicht herauswinden, werden wir irgendwann nur noch Kuckucksuhren exportieren und als Touristguides russischen und chinesischen Touristen den Kölner Dom erklären.
Flo Osrainik: Und welche Rolle spielt NATO dabei? Wieso machen die Mitgliedsstaaten der Nordatlantikpakt Organisation jetzt wieder Front gegen Russland — Truppen stehen an der russischen Westgrenze, ein Raketenschild zielt auf Moskau —, und können Sie dabei auch etwas auf die Neuausrichtung und Expansion des westlichen Militärbündnisses seit der Auflösung des Warschauer Pakts eingehen?
Hermann Ploppa: Die NATO soll doch letztendlich die Agenda von Halford Mackinder zum Abschluss bringen. Die NATO ist noch nie eine Defensivorganisation gewesen.
Unmittelbar nachdem Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel 1945 für die Wehrmacht den Waffenstillstand unterzeichnet hatte, plante der britische Regierungschef Winston Churchill bereits in seiner Operation Unthinkable die Remobilisierung von 100.000 deutschen Wehrmachts- und SS-Soldaten, damit diese die westlichen Truppen unterstützen sollten in einem »totalen Krieg« gegen die völlig erschöpfte Sowjetunion, um ihr »den Willen der Angloamerikaner aufzuzwingen«. Unabhängig davon plante die US-Regierung nach dem Tod von Franklin Delano Roosevelt in der Operation Dropbox die nukleare Auslöschung der Sowjetunion.
Ich erzähle in meinem Buch die spannende Geschichte, welche Konstellation nahezu unfassbarer Zufälle uns Schutzengel schickte, sodass es entgegen der westlichen Planung nicht zum nuklearen Knall gekommen ist und wir jetzt hier sitzen und nicht als nuklearer Feinstaub durch das All wirbeln. Doch wenn der Schutzengel mal Urlaub macht, was dann? Die Planungen laufen, und wir können uns nicht auf die Kölner Lebensweisheit verlassen: »Ett hätt als no immer jot jejange!«. Wir verlieren unser bestes Gut, unser Leben nämlich, wenn wir uns jetzt nicht energisch der Generalprobe des Krieges gegen Russland, dem aktuellen Manöver Defender 2020, mit friedlichen aber nachdrücklichen Mitteln entgegenstellen.
Flo Osrainik: Russland wird also als Bedrohung dargestellt, Kritik an der NATO findet — trotz Beteiligung an völkerrechtswidrigen Kriegen oder gebrochenen Vereinbarungen nach dem Ende der Sowjetunion — so gut wie nicht statt. Welche Aufgabe übernehmen die Leitmedien denn bei diesem Spiel?
Hermann Ploppa: Das habe ich in meinem früheren Buch »Die Macher hinter den Kulissen« dargestellt. Und zuvor hat schon Uwe Krüger in einer Dissertation die enge Verflochtenheit der Redaktionsleiter der führenden deutschen Zeitungen — egal ob angeblich rechts oder links — mit den diversen Lobbyorganisationen der Rüstungsindustrie und der NATO überzeugend dargelegt.
Es ist ja gerade dieses perfide Spiel, dass einige Zeitungen ein Publikum bedienen, das sich als rechts stehend definiert, und andere Zeitungen ein vermeintlich linkes Publikum bedienen. Bei weniger wichtigen Themen differieren diese Zeitungen in ihrer Meinung. Das macht sie nur umso »glaubwürdiger«, wenn sie sich bei entscheidenden Fragen wie Aufrüstung und Mobilisierung gegen Russland alle so herrlich einig sind. Wenn »rechte« und »linke« Zeitungen in dieser Frage derselben Meinung sind, dann muss da ja was dran sein, denkt sich der unbedarfte Leser.
Nun schwindet — nicht zuletzt aufgrund dieses auf Dauer anödenden Gleichklanges aller Zeitungen — die Bedeutung eben dieser Periodika. Das sind Museumsstücke. Wichtig und entscheidend ist doch das Internet. Und hier, wir sehen das bei der Aufplusterung von Rezo durch die aufstrebende Ströer-Mediengruppe, sind sogenannte Influencer von entscheidender Bedeutung. Weil ja im Internet reale Personen sich durch unzählige Avatare beliebig aufplustern können, manipulieren professionelle Influencer Meinungen und Stimmungen im Internet. So sind heutzutage Hitparaden und Buch-Bestsellerlisten gefälscht. Was bei Facebook und anderen asozialen Medien heutzutage gemogelt und geschummelt wird, das geht auf keine Kuhhaut mehr.
Einschüchterung und Shitstorm sind gängige Druckmittel, um nicht NATO-konforme Meinungen im Keim zu zerdrücken. Zudem wird die »Wahrheit« neu definiert von intransparenten Instanzen wie Wikipedia oder Psiram.
Deren aus der Obskurität gewonnenen Ansichten werden heute von politischen Bildungsinstitutionen übernommen und in einer Art Zitierkartell etabliert sich in Windeseile eine neue »Wahrheit«. Die Sprache wird verdreht und vergewaltigt. Worte werden mal eben mit ganz neuen Inhalten belegt — gänzlich ohne öffentliche Diskussion. Zudem werden bislang linke Organisationen von NATO-Seilschaften unterwandert und machen Front gegen Friedenspolitik. Also, nicht Zeitungen geben die zur NATO passende Musik am mächtigsten vor, sondern die neuen Medien und deren Vollstrecker vor Ort.
Flo Osrainik: Nun sind die USA ja tonangebend in der NATO. Welche Interessen verfolgen die USA als treibende Kraft gegenüber Russland und wie hat sich die US-Außenpolitik in den letzten Jahren diesbezüglich verändert, nachdem man nicht etwa die US-Regierung mit ihren Verbindungen zu Islamisten oder Putschisten, sondern Russland nun auch noch als Sponsor des Terrorismus zählen möchte, nachdem der Ausschuss des US-Senats einen entsprechenden Gesetzentwurf kurz nach dem letzten Besuch von Sergei Lawrow in den USA gebilligt hat?
Hermann Ploppa: Auf die Politik der Entspannung, die dem Westen gute Geschäfte mit dem Osten gesichert hat, kam mit Präsident Ronald Reagan ein neues hochriskantes Hasardspiel, das wegen innerer Probleme der Sowjetunion wunderbar aufging. Nachdem Francis Fukuyama das Ende der Geschichte ausrief, also den Endsieg des Marktradikalismus, drückte die Rüstungslobby seit dem 11. September 2001 erneut auf die Tube, indem man einen globalen Gegner, nämlich den Islam, erfand.
Dabei spielte es für diese Kriegskrämer auch keine Rolle, ob man nun ein Land der sunnitischen, schiitischen, sufistischen oder wahhabitischen Konfession des Islam ins Fadenkreuz nahm. Entscheidend ist immer das Muster der paranoiden Politik, wie es der amerikanische Soziologe Richard Hofstadter einmal genannt hat. Eisenhowers Außenminister John Foster Dulles sah hinter jeder Unabhängigkeitsbewegung in der Dritten Welt grundsätzlich das raffinierte Ränkespiel der Sowjetkommunisten. Unter George Bush II. stand hinter allem, was den USA in die Quere kam, eine Verschwörung einer kleinen Gruppe von bärtigen säbelschwingenden islamistischen Gotteskriegern. Heute sieht die Situation für die USA nicht mehr so behaglich aus wie zu Zeiten des zweiten George Bush.
Richard Nixon hatte sicher nicht ganz unrecht, als er vermutete, dass die USA mit ihrem Techtelmechtel mit der Volksrepublik China womöglich Frankensteins Monster aufgeweckt habe. China hat von den USA abgeschaut, was für die eigenen Interessen nützlich war, und hat die Elemente des Amerikanismus, die für sie unsinnig sind, großräumig ignoriert. Mit der Shanghai Cooperation Organization ist den USA ein ebenbürtiger Gegner erwachsen. Hier ist die geballte Wirtschaftskraft von über sechzig Prozent der Weltwirtschaft versammelt. Die Eliten der USA werden mit ihren dummen Paranoiastorys von den Russen als vermeintlichen Sponsoren eines Weltterrorismus nicht mehr viel erreichen können.
Flo Osrainik: Welche Kreise haben in den USA das Sagen und welchen Einfluss hat diese antirussische Hysterie auf Deutschland? Handeln die Entscheider in der Politik, in den USA, aber auch in Deutschland und der EU überhaupt unabhängig?
Hermann Ploppa: In den USA tobt unverkennbar ein Kampf zweier Linien. Da ist zum einen das traditionelle militärisch-industrielle Establishment, das wir gerade besonders wütend bellend bei den Demokraten verorten können. Zum anderen die Trump-Linie: Dort setzt man darauf, Russland aus dem Bündnis mit China heraus zu lösen, indem man Russland ködert. Um dann umso energischer den eigentlich gefährlichen Rivalen China anzupacken. Diese Linie findet wortstarke Unterstützer bei den europäischen sogenannten Rechtspopulisten.
Noch haben in der europäischen Politik die klassischen Transatlantiker, die tendenziell eher den Demokraten in den USA nahestehen, die Oberhand. Aber der Brexit-Effekt macht deutlich, dass diese Matrix am Bröckeln ist. Vertreter einer wirklich unabhängigen Europastrategie erkenne ich im jetzt sichtbaren Parteienspektrum unseres Kontinents bislang überhaupt nicht. Man kann gespannt sein, welche Rückwirkungen ein Erfolg des sozialdemokratischen US-Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders auf die politische Landschaft in Europa haben könnte.
Flo Osrainik: Es gibt in Deutschland bei der Linken und in einigen außerparlamentarischen Kleinparteien, aber etwa auch in der Friedensbewegung, Stimmen, die eine Auflösung der NATO und stattdessen eine Art gemeinsame europäische Armee oder ein europäisches Militärbündnisses unter Einbezug Russlands fordern. Bringt uns das einer gerechten und friedlichen Weltordnung näher und wie realistisch wäre eine Umsetzung dieser Forderung in absehbarer Zeit überhaupt?
Hermann Ploppa: Natürlich muss die NATO aufgelöst werden. Das ist eine fortwährende vitale Bedrohung für alle Menschen auf diesem Globus. Zudem brauchen wir das für Rüstung verschwendete Geld dringend für den sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Wiederaufbau Europas und der mit uns verbundenen Dritten Welt. Sicher brauchen wir für ein freies Europa auch ein neues Sicherheitssystem. Aber solange die Vertreter einer solchen neuen Sicherheitsordnung anteilmäßig nicht einmal in Promille unserer Bevölkerung messbar sind, brauchen wir uns über Details einer solchen Ordnung nicht zu unterhalten.
Flo Osrainik: Sie bezeichnen die EU ja als ein »Top-Down-Projekt«. Was meinen Sie damit genau und welche Defizite hat die EU, so wie sie heute verfasst ist? Wer oder was spielt da alles mit?
Hermann Ploppa: Die europäische Einigung in all ihren Ausformungen: EWG, EFTA, EG und heute EU, wurde von der Regierung der USA am Reißbrett entwickelt und dann in Tarnorganisationen, wie den Americans for a United Europe (ACUE), in Europa transplantiert. Das diente zunächst der geopolitischen Flurbereinigung der komplett zu Failed States heruntergebombten europäischen Nationen, um sie möglichst schnell und orchestriert gegen die Sowjetunion in Stellung bringen zu können.
Mittlerweile hat das geeinte Europa eine andere Funktion: Es soll den Vormarsch der mittlerweile übermächtig gewordenen globalen Konzerne und Kartelle politisch durchdrücken. Deswegen auch gerade die Tiraden gegen den Nationalstaat.
Marktradikale Seilschaften haben, in die Regierungen eingesickert, die Finanzen der Staaten ohne Not in Grund und Boden ruiniert, damit dann die privaten Banken und Konzerne sich als Insolvenzverwalter die Filetstücke herausschneiden können. Am Ende der Entwicklung gibt es die komplette Abschaffung der Nationalstaaten und die komplette Unterwerfung der Bevölkerung unter ein neofeudales Regime der Globalkonzerne. Enteignung des öffentlichen Raums und Gated Communities sind schon in vollem Gange.
Flo Osrainik: Brauchen wir — und wenn ja, wozu — überhaupt noch einen Nationalstaat oder anders gefragt, wie müsste die EU verfasst sein, damit man eines Tages womöglich ganz auf das Nationale verzichten könnte?
Hermann Ploppa: Der Nationalstaat ist der letzte verbliebene Großorganismus, der wenigstens potenziell den übermächtig gewordenen Globalkonzernen und Banken noch etwas entgegensetzen könnte. Ich sehe selbstverständlich, dass eben dieser Staatsapparat von Trollen der Konzerne und Banken übernommen worden ist. Darauf können wir nur politisch antworten. Indem wir auf demokratische Weise diese Konzerntrolle aus den Regierungen verjagen. Die Menschen in Europa müssen ihre Staaten von unten her neu aufbauen oder besser: instand-besetzen. Das haben das deutsche Bildungsbürgertum und die Arbeiterbewegung schon einmal sehr weit vorangebracht durch die Gründung von Genossenschaften und öffentlich-rechtlichen Wirtschafts- und Versorgungsunternehmen. Reste dieser genialen Infrastruktur existieren noch.
Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Wir müssen nur da anknüpfen, wo uns die vorherigen Generationen den Faden hinterlassen haben. Wenn es uns gelungen ist, den öffentlichen Raum zurückzuerobern, dann können wir uns mit unseren europäischen Nachbarn darüber unterhalten, ob wir zu einem vereinten demokratischen Europa zusammenwachsen wollen, an dessen Ende ein wirklich von den Völkern gewolltes übernationales Gemeinwesen stehen kann.
Flo Osrainik: Wie sehen Sie die Chancen für eine strukturelle Veränderung, für eine Demokratisierung und Emanzipation der EU und was müsste dafür konkret unternommen werden?
Hermann Ploppa
: Der erste Schritt besteht darin, die kollektive Verblödung zurückzufahren; die galoppierende Vereinsamung zu überwinden. Fernseher rausschmeißen. Mobiltelefone abstellen, wenn wir uns mit anderen Menschen unterhalten. Gesprächskreise bilden, in denen wir uns kontrovers, aber freundschaftlich über wichtige Fragen austauschen. Alte Bücher lesen, um den Gedankenfaden wieder aufzunehmen, den uns unsere Altvorderen hinterlassen haben. Den Schwarzweißmalern und Hasspredigern entgegentreten. Wenn wir dann den Kopf vielleicht zusätzlich durch Yoga, Meditation und gemeinsame Aktivitäten freigespült haben, dann können wir die Agenda angehen, die ich als Antwort auf Ihre vorherige Frage skizziert habe.
Flo Osrainik: Vielen Dank für Ihre Zeit.
Mein Beitrag erschien bei Manova.
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