Der fehlende Part

RT Deutsch will kein Sprachrohr des Kreml sein, sondern auf Wahrheiten hinweisen, die in anderen Medien keinen Platz finden. Interview mit Chefredakteur Ivan Rodionov.

 

Man hat es nicht leicht als »Feindsender«. Die deutsche Ausgabe von »Russia Today« hat seit ihrer Gründung 2014 mit massivem publizistischen Gegenwind zu kämpfen. Die Journalisten wurden als »Lügner« und Putin-hörig diffamiert; wer sich von RT interviewen lässt, muss sich warm anziehen. Hat der westliche Politikbetrieb derartige Angst vor den Inhalten eines russischen Mediums, dass er dieses auf keinen Fall tolerieren kann? Klar, man möchte sich nicht von einer »fremden Macht« dreinreden lassen — es sei denn, sie heißt USA, von wo aus Deutschland andauernd mit Propaganda überzogen wird. RT Deutsch ist spezialisiert auf »komplementäre« Wahrheiten, die anderswo unterdrückt oder ignoriert werden. Schon darin liegt der Wert des von Ivan Rodionov geleiteten Senders. Flo Osrainik sprach anlässlich des 5. Geburtstags von RT Deutsch mit ihm.

 

Flo Osrainik.: Herr Rodionov, Sie sind Chefredakteur des deutschsprachigen Angebots von RT. Fünf Jahre RT Deutsch im Rückblick: Hat sich aus Ihrer Sicht alles wie geplant entwickelt? Wie wird das Angebot angenommen und mit welchen Widerständen und Problemen hat RT Deutsch zu kämpfen?

 

Ivan Rodionov: Wir hatten keinen 5-Jahres-Plan. Als wir 2014 an den Start gegangen sind mit einer täglichen halbstündigen YouTube-Sendung »Der fehlende Part« und einem Online-Team mit vier Redakteuren. Dafür hatten wir jede Menge Erwartungsdruck, etwas naiven Enthusiasmus und leichten Bammel. Gemessen an den recht überschaubaren Kapazitäten war der Selbstanspruch, eine hörbare neue Stimme im Medienwald zu werden, recht frech.

 

Und das Bewusstsein, im Brennpunkt der medialen Aufmerksamkeit zu stehen, sehr präsent. Denn der Empfang durch die Mainstream-Maschine war überwältigend. Dass unser Online-Auftritt die Grundfeste der Demokratie, das Vertrauen in die etablierten Medien, den ganzen gesellschaftlichen Zusammenhalt so massiv erschüttern würde, hätten wir so nicht geahnt. Und, mit Verlaub, wenn eine halbstündige YouTube-Sendung eine so ominöse Gefahr für die Grundpfeiler einer Gesellschaftsordnung darstellen soll, wie behauptet, dann liegt es an den Grundpfeilern selbst oder mehr an der gestörten Wahrnehmung ihrer Wächter, nicht an der Sendung.

 

Flo Osrainik: Warum braucht die Öffentlichkeit ein Medium wie RT und wieso ist das Nachrichtenangebot von RT eine Bereicherung? Was macht RT anders, besser oder schlechter? Können Sie Beispiele nennen?

 

Ivan Rodionov: Ob und warum die Öffentlichkeit RT braucht, kann nur die Öffentlichkeit selbst entscheiden. RT Deutsch wird nicht zwangsverbreitet, kommt nicht aus jeder Steckdose und steht nicht im Verdacht, von Suchmaschinen und News-Aggregatoren auf Kosten anderer Anbieter begünstigt zu werden. Wir schalten auch keine Werbung. Allerdings: die mainstreamige Anti-RT-Schelte mit ihren bizarren Feindbild-Klischees, selbstreferierend recycelten Falschdarstellungen — Stichwort »Fall Lisa« — und schrillen Pöbeleien wie »dreckige Lügner«, »propagandistischer Drecksauen« soll eine Art abschreckende »Firewall« um RT Deutsch hochziehen, das bleibt unsere verlässlichste Werbung (Halbscherz).

 

Unser Angebot definierte sich ursprünglich als »Der fehlende Part« zum ganzen Bild. Das Problem ist, dass bei komplexen Themen wie etwa der Vorkriegsgeschichte der fehlende Part mittlerweile größer als der vorhandene ist.

 

Den weggekürzten Kontext zu liefern — darin liegt einer der wesentlichen Unterschiede zum Mainstream-Narrativ. Die Verkürzungs- und Entkontextualisierungs-Klassiker sind der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag, das Putin-Zitat über den Zerfall der Sowjetunion als der größten geopolitischen Katastrophe des Jahrhunderts und die sogenannte Gerassimow-Doktrin, um nur einige zu nennen.

 

Dass der ausschließlich als ‚Hitler-Stalin-Pakt‘ geframete Vertrag ein letztes Glied in einer fatalen Kette von bilateralen Abkommen, Rochaden, Zweck-Allianzen, gescheiterten Koalitionsbemühungen und Vertrauensbrüchen war, wird ausgeklammert. Dass Putin die verheerenden humanitären Folgen des Kollapses eines Vielvölkerstaates meinte und sich obendrein mehrfach zum Sowjetsystem klar positioniert hat — mitnichten als Verklärer oder gar Restaurateur — wird übersehen. Dass die sogenannte Gerassimow-Doktrin der hybriden Kriegsführung nichts Anderes als eine politisch-militärische Analyse der Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten und eine daraus folgende klare Warnung ist, wird ignoriert. Man lässt sich doch durch Fakten die gute Story nicht ruinieren.

 

Flo Osrainik: Wieso sind alternative Medien grundsätzlich nötig und worauf sollte man im Umgang mit Medien, den herkömmlichen, aber auch den alternativen Medien, als Nachrichtenempfänger achten?

 

Ivan Rodionov: Hätten die Leitmedien ausreichend Perspektivwechsel, diverse Blickwinkel und Gegengewicht zu dominanten Standpunkten geboten, wären alternative Medien redundant. Sie tun es bloß nicht. Gerade und ausgerechnet bei existenziellen Fragen wie Krieg und Frieden schlagen alle großen Medienkanäle in die gleiche Kerbe. Bei einer Podiumsdiskussion in Österreich meinte ein Mitdiskutant kopfschüttelnd, ich könne doch nicht im Ernsten glauben, die westlichen Journalisten würden bewusst pro-NATO berichten. Die Unterstellung allein wäre absurd.

 

Womöglich machen sie es unbewusst, aus dem Bauch heraus. Denn sonst ist ein journalistischer Text wie neulich in der FAZ unter dem zackigen Titel »Zur Abwehr bereit« schwer zu erklären: »Russland soll wissen: wir wollen und wir können noch.« Die Abschreckung pur, als hätte dem Russen die NATO allein mit ihren Panzern nicht ausgereicht, jetzt marschiert auch noch die FAZ an ihrer Seite.

 

Dazu rutschen den Leitmedien immer wieder Themen unter dem Schirm durch, die sich dann nur in den alternativen Medien wiederfinden. Das jüngste Beispiel: ein OPCW-Insider-Leak, der mit dem Abschlussbericht der Organisation zum angeblichen Giftgasangriff im syrischen Duma hart ins Gericht geht und diesem frisierte Darstellung und tendenziöse Interpretationen zu Lasten Damaskus vorwirft.

 

Diese Erkenntnisse stellen die Begründung für den Raketenangriff auf Syrien infrage, welcher als Vergeltung für die Gasattacke verkauft wurde. Die Nachricht war für die großen Medienhäuser irrelevant, das interessierte Publikum war auf die alternativen Quellen angewiesen. Ein UN-Sonderberichterstatter, der festgestellt hat, dass Julian Assange im britischen Gefängnis psychologischer Folter ausgesetzt ist, schaffte es auch nicht in die News-Agenda für die großen Massen. Generell ist der eingesperrte Wikileaks-Gründer kein Thema außerhalb der alternativen Medien.

 

Alternativlosigkeit, das von der Kanzlerin öfter gebrauchte Wort, ist erdrückend und am Ende fatal, ob für Medien oder Politik. Die Möglichkeit eines Perspektivwechsels ist wie Empathie-Fähigkeit — man kann zwar auch ohne leben, sogar ungestörter. Aber in einer sehr öden, eindimensionalen Phantom-Welt.

 

Flo Osrainik: Versagen also die etablierten Medien und warum?

 

Ivan Rodionov: Es kommt darauf an, wie »Versagen« definiert wird. Das Meinungsmanagement, das die Leitmedien heute insbesondere zu den zentralen außen- und sicherheitspolitischen Themenkomplexen betreiben, ist ziemlich effektiv, wenn man die kritische Öffentlichkeit herausnimmt, diese notorische Nörgler-Minderheit (Ironie). Sucht man eine Bestätigung des trauten Weltbildes, dann ist man bei den Leitmedien bestens bedient.

 

Die Feindbilder sind klar umrissen, die Grenzen zwischen Gut und Böse unmissverständlich gezogen: ein düsteres, aggressives Putin-Russland bedroht die rein defensive und etwas desolate, weil unterfinanzierte Werte-NATO; das syrische Volk kämpft gegen einen blutrünstigen Despoten und ein paar seiner sadistischen Schergen; ein pro-russischer Herrscher in Kiew wird durch einen demokratischen Volksaufstand weggejagt; zwei Diktatoren schließen einen Pakt ab und lösen damit den Weltkrieg aus. Die monokausalen Geschichten verkaufen sich am besten — das hat noch Claas Relotius besonders gut verinnerlicht und umgesetzt.

 

Es ist zu viel geistige Arbeit, zu hinterfragen, wie kann ein Militärblock mit einem 11-fachen Rüstungsetat seines potenziellen Gegners unterfinanziert sein und wieso die NATO vor die russischen Grenzen so massiv militärisch vorrückt, nicht umgekehrt; warum fast 10 Millionen Syrer bei den Wahlen für Assad stimmen, insbesondere die im Ausland lebenden; warum der korrupte Herrscher in Kiew lange Zeit ein willkommener Verhandlungspartner der EU war, wieso er sich mit Russland immer wieder spektakulär anlegte und wo auf dem Maidan die paramilitärischen straff geführten Straßenkampf-Hundertschaften herkamen; warum Moskau mit seinen Initiativen einer breiten Antihitler-Koalition in Warschau und London scheiterte und was Winston Churchill wohl damit meinte: »Das sowjetische Angebot wurde ignoriert. Dafür mussten wir später teuer bezahlen.«

 

Flo Osrainik: Das Medienunternehmen RT wurde im Jahr 2005 gegründet und wird vom russischen Staat finanziert. Daraus hat man ja kein Geheimnis gemacht, andere Auslandssender werden ebenfalls staatlich finanziert. RT wird es aber zum Vorwurf gemacht. Welchen Einfluss hat die russische Politik auf die Arbeit von RT? Gibt es Dogmen, Richtlinien oder Vorgaben in Bezug auf die Ausrichtung des Senders, die Inhalte oder die Arbeit der Journalisten und Redakteure und wieso scheint das nur bei RT ein Problem zu sein?

 

Ivan Rodionov: Damit hat doch unser erster »Maulwurf« Martin Schlak seine Reportage »Undercover bei Russia Today« im Neon-Magazin begonnen — dass er in den drei Wochen seines Praktikums bei RT Deutsch das Fax-Gerät nicht finden konnte, das Direktiven aus Moskau herausspuckt. Ein Fax passt offenbar am besten zum Russenbild des mittlerweile eingestellten Magazins.

 

Ich frage mich, wie stellt man sich das vor, dass die deutschen Journalisten mit sehr vielfältigen kulturellen Wurzeln, die bei RT Deutsch arbeiten, dazu verdonnert werden, was Nettes über Putin zu schreiben oder was Böses über — wen, übrigens, Angela Merkel? Wie soll denn dieser journalistische Gulag funktionieren, in dem unter Fremddiktat berichtet wird, und wer sind diese Masochisten, die sich darauf frei bewerben?

 

In der tristen Wirklichkeit müssen wir uns jeden Morgen in der Redaktion die Köpfe über die Themen des Tages zerbrechen. Auf den Kreml ist dabei kein Verlass.

 

Die Deutsche Welle, BBC World, France 24, Radio Liberty/Radio Free Europe werden ebenso wie RT aus dem Staatshaushalt finanziert. Die Modelle sind sehr ähnlich, doch wo es bei den anderen Freiheit vom marktwirtschaftlichen Druck bedeutet, soll bei RT Instrumentalisierung für Staatspropaganda sein. Echt jetzt? Werden da nicht zufällig eigene Vorstellungen über die Aufgaben und Funktion eines Auslandssenders auf RT projiziert?

 

Flo Osrainik: Versucht RT Deutsch nicht auch zu polarisieren, womöglich zu spalten? Man bringt überwiegend Stimmen der politischen Ränder, weniger aus der selbst ernannten Mitte oder passt sich RT Deutsch dem Meinungskorridor hier einfach nicht an? Und wenn ja, warum ist das so?

 

Ivan Rodionov: »Polarisierung«, »Spaltung« — da wird, glaube ich, der Überbringer der Botschaft mit der Botschaft selbst verwechselt. Die meisten Politiker, die mit RT Deutsch gesprochen haben, kommen übrigens von der CDU/CSU. Gefolgt von der SPD. Die AfD liegt auf Platz 4 hinter der LINKE. Dabei werden wir sehr wohl mit der Boykotthaltung konfrontiert. Und die Vertreter der Mitte, die mit uns sprechen, müssen nachher oft mit massiver Schelte rechnen — wie Sigmar Gabriel, Matthias Platzeck und Katarina Barley.

 

Es ist eine absurde Situation: RT Deutsch wird vorgeworfen, sich an den äußeren Rändern zu bedienen, und die Meinungsträger aus der Mitte werden davor gewarnt, sich auf RT blicken zu lassen.

 

Wir haben über einen lokalen CSU-Politiker berichtet, dem sein Kreisverband mit Fraktionsausschluss drohte, weil er von seinem privaten Account unsere Facebook-Seite geliket hatte.

 

Der Grad an Hysterie, mit dem RT speziell in Deutschland begegnet wird, ist bizarr. Wenn ein Online-Medium als Bedrohung für Demokratie gesehen wird, wie schwach und anfällig soll sich diese Demokratie vorkommen? Warum geht die russische »Despotie« mit den westlichen Auslandssendern so viel gelassener um? Der Deutschen Welle etwa wurde ihre russische Sendelizenz um weitere 10 Jahre verlängert und es ist mir nicht bekannt, dass ihre russischen Gesprächspartner auf eine ähnlich hässliche Weise denunziert würden.

 

Flo Osrainik: Wie sieht RT Deutsch, wie das Angebot und die Resonanz in weiteren fünf Jahren aus? Wird RT Deutsch dann auch im TV zu empfangen sein?

 

Ivan Rodionov: Die spannende Frage ist, ob in 5 Jahren TV für Nachrichtensender überhaupt noch relevant bleibt. Aber die Themen werden uns bestimmt nicht ausgehen.

 

Flo Osrainik: Ich bedanke mich für das Gespräch.

 

 

Mein Beitrag erschien bei Manova.

 

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