Pier Paolo Pasolini bezeichnet den modernen Intellektuellen als »Freibeuter«. Das ist keine Idealisierung. Tatsächlich erkannten die Piraten damals das Unrecht der Reichen und Herrschenden gegenüber den Armen und Unterdrückten sehr genau.
Manche von ihnen bekämpften Sklaverei und Rassismus und experimentierten mit gerechteren Lebensformen. In den eigenen Reihen gab es Ansätze von Demokratie sowie ein funktionierendes Sozialsystem. Ein unvoreingenommener historischer Rückblick zeigt, dass die Einteilung von Menschen in Verbrecher und Gute teilweise sehr von der Perspektive abhängt, die man einnimmt. Der Versuch einer Rehabilitierung einer vielfach missverstandenen »Berufsgruppe«.
Karl Marx und Friedrich Engels waren der Ansicht, dass die Gedanken der herrschenden Klasse in jeder Epoche die herrschenden Gedanken sind. Ähnlich verhält es sich mit der Geschichtsschreibung oder der Gerichtsbarkeit. In Brüssel trafen 1847, damals ein Ort revolutionärer Ideen, die noch recht jungen Marx und Engels auf einen älteren Herrn mit dem Namen John Lafflin, alias Jean Lafitte. Lafitte, ein ehemals erfolgreicher Kaufmann, Sklavenhändler, Schmuggler, Vaterlandsverteidiger, Spion und Pirat, er hatte zwei Kommunen in Barataria und Galveston vorgestanden, hielt viel von den Ideen der beiden und finanzierte deren Druck des 1848 erschienenen Manuskripts »Das Kommunistische Manifest«.
Bei den Piraten der Karibik war Besitz Eigentum der Gemeinschaft. Piraten waren, ihrer Zeit voraus, sozial organisiert. Der Kapitän wurde gewählt, konnte jederzeit abgesetzt werden und hatte nur im Kampf Befehlsgewalt.
Es gab keine Rangunterschiede. Die Beute gehörte allen und wurde zu gleichen Teilen, nur der Kapitän bekam zwei, der Schiffsjunge einen halben Anteil, vergeben. Nach der Chasse Partie, ein von allen anerkannter und unterzeichneter Vertrag, wurden Beuteanteil und Gemeingut geregelt. Bevor die Beute verteilt wurde, musste jeder feierlich schwören, dass er nichts für sich beiseite geschafft hat, ansonsten wurde man ausgesetzt oder hingerichtet, was aber selten geschah.
Der Zeitzeuge karibischer Piraterie, Alexandre Olivier Exquemelin, er segelte lange unter bekannten Piraten, schrieb, dass sich die Piraten »untereinander vollkommen ehrlich« verhalten und sich »bereitwillig aus jeder erdenklichen Verlegenheit« helfen. Es gab eine Aufstellung an Sozialabgaben, kostenlose ärztliche Behandlung und Angehörige von Gefallenen wurden entschädigt. Die Beuteanteile gefallener Piraten ohne Erben wurden an die Armen verteilt. »Vor dem Kampf umarmen sie sich und vergeben sich gegenseitig, was sie Böses getan haben«, schrieb Exquemelin.
Im Jahr 1716 sprach der Pirat Samuel Bellamy — wegen der schwarzen Haare Black Sam genannt — zum Kapitän eines gekaperten Frachters, um ihn zu einem Übertritt in seine Bande zu überreden:
»Verdammt, Ihr seid ein schniefeliger Hundsbalg, und genauso, wie alle, die hinnehmen von Gesetzen regiert zu werden, die reiche Leute zu ihrer eigenen Sicherheit gemacht haben, weil diesen feigen Hühnerseelen die Courage fehlt, auf andere Weise das zu verteidigen, was sie durch ihre Schurkereien zusammengerafft haben. Fluch und Blut über dieses ganze Pack gerissener Schufte! Und über Euch, der Ihr denen als ein Posten hühnerherziger Trottel gerade recht dient!
Das ist der einzige Unterschied zwischen mir und Ihnen: Sie berauben die Armen unter dem Deckmantel des Gesetzes. Und wir plündern die Reichen unter dem Schutz allein unserer Courage! Wäre es nicht tausendmal besser für Euch, bei uns mitzumachen, anstatt hinter den Ärschen dieser Schufte herzuschnüffeln? Nein? Ich bin ein freier Fürst und habe Macht, der ganzen Welt den Krieg zu erklären wie nur einer, der 1000 Schiffe und 100.000 Mann im Feld hat. Mein einfachster Menschenverstand sagt mir das.
Aber mit solchen Schwanzwedlern wie Euch ist ja kein Argumentieren, mit derartigen Weichbolden, die jedem Popanz erlauben, sie übers Deck zu pfeifen. Na schön, meinetwegen könnt ihr laufen, wohin immer ihr wollt, und denen nach wie vor in die Ärsche kriechen. Solch schäbige Windeln wie Euch zwinge ich zu nichts. Aber verdammt und Dreck, es tut mir leid, wenn meine Leute hier Euch Eure Slup nicht wiedergeben wollen. Es ist durchaus nicht meine Art, irgendjemandem etwas Unliebsames anzutun, es sei denn nur zu meinem ganz persönlichen Vorteil. Also dann! Haut ab! Verduftet! Enthebt uns der Anstrengung, Euer beleidigtes Gesicht länger in unserer Mitte zu sehen, als unsere Gutmütigkeit erträgt! Lebt wohl, Kapitän! Euer kleines Beiboot steht zu Eurer Verfügung. Gute Reise! Sprecht nett über uns, und lasst Euch nie wieder blicken! Tschirio!«
Bellamy war wohl ungebildet, aber intelligent und ein begabter Redner. Wahrscheinlich geisterten schon lange Ideen, wie sie von der Französischen Revolution mit „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ später beschrieben wurden, im Kopf des Engländers umher. Er fand sie offensichtlich in der egalitären Gesellschaftsordnung der karibischen Piraten. Seine Fahne, der Jolly Roger, ein Totenkopf mit zwei sich kreuzenden Knochen, stand nicht als Drohung. Die Flagge stand für Männer, die für das Gesetz tot waren. Für Männer, die sich dem Gesetz nicht mehr unterwarfen. Bellamy brüllte nach dem Aufziehen seiner Flagge:
»Diese Flagge steht nicht für den Tod, sondern für die Auferstehung! Nie wieder werdet ihr Sklaven der Reichen sein. Von heute an sind wir neue Menschen. Wir sind frei!«
Die Piratin Mary Read beschreibt 1720 die Doppelmoral der Gesellschaft vor Gericht:
»Der Galgen schreckt mich nicht. Ich habe den Tod nie gefürchtet — das überlasse ich den Feiglingen, die, Gott sei Dank, durch die angedrohten Strafen von der See ferngehalten werden und sich damit begnügen an Land zu räubern, Witwen und Waisen zu betrügen, die Nachbarn zu schädigen, und dennoch für anständig gelten. Würden diese Halunken ungestraft den Ozean überfluten, dann wäre es bald aus mit jeder vernünftigen Freibeuterei!«
Kapitän Misson, ein libertärer Anarcho-Piratenkapitän, der einen Dominikanerpater mit dem Namen Caraccioli irgendwann im späten 17. Jahrhundert zu einem Piraten machte, soll laut Erzählung der »General History of the Pyrates« nach der Eroberung eines Sklavenschiffes aus Amsterdam gesagt haben:
»Der Handel mit unseren eigenen Ebenbildern kann unmöglich den Augen der göttlichen Gerechtigkeit gefallen. Kein Mensch hat Gewalt über die Freiheit des anderen, und wenn jemand Menschen gleich Tieren verschachert, beweist er damit, dass seine Religion nichts ist als eine Grimasse und sich vom Kult der Barbaren nur dem Namen nach unterscheidet. Wie immer auch diese Neger in Farbe und Gebräuchen von den Europäern abstechen, so sind sie doch das Werk desselben allmächtigen Waltens und mit gleicher Vernunft begabt. Und somit sei der Begriff Sklaverei unter uns für immer verbannt!«
In einer Zeremonie wurden die Sklaven befreit, ihre Ketten zerschlagen und versenkt. Wer von den befreiten Sklaven zum Christentum übertreten wollte, wurde getauft, wer das nicht wünschte, konnte ein Dankesritual für die eigenen Götter abhalten. Einige Holländer musterten bei Misson an und die Befreiten wurden offiziell in die Mannschaft aufgenommen. Die Fahne des schon fast heiligen Piraten war weiß mit goldener Inschrift Pour Dieu et Liberté (Für Gott und Freiheit). Misson und Caraccioli gründeten mit ihren Leuten den idealen Freistaat Libertatia an der Küste Madagaskars, man vermischte sich mit den Einwohnern und verständigte sich in einer Art Esperanto. Versprengte Piratengruppen beendeten die Idylle der freiheitlichen Republik. Der Geist von Libertatia wehte weiter unter den Piraten und fand in vereinzelten Ansiedlungen Nachahmung.
Unter den Piraten gab es unterschiedlichste Männer aus allen Teilen der Welt. Österreicher und Chinesen, Indios und Griechen, Russen, Inder, Preußen, Schweden, Spanier oder Afrikaner, üble Schurken und edle Freiheitskämpfer oder beides in einem, wie Monbars, der Würgeengel. Dem jungen französischen Adeligen wurde ein Buch über die grausame Unterdrückung und Ausrottung der Indios durch die Spanier zum Schicksal. Vom Hass getrieben brachte er es zum Piratenadmiral, jagte so ab 1660 in Hispaniola Spanier und befreite Indios. Spanier, gleich welchen Alters wurden von ihm niedergemacht und übel bis zum Tod gefoltert. Seine Mannschaft bestand aus Indios. Später wurde er wegen seiner Grausamkeit als Admiral wieder abgesetzt. Monbars war für die Indios wie ein Gott.
Männer wie Misson oder Major Stede Bonnet, ein ansonsten recht erfolgloser Pirat, überfielen Sklavenhändler, befreiten die Verschleppten oder nahmen sie in ihre Mannschaft auf. Andere Piraten handelten mit ihnen. Alleine englische Reedereien hatten bis zur amerikanischen Unabhängigkeit im Jahr 1786 an die zweieinhalb Millionen Schwarze in die Neue Welt verfrachtet.
Die Spanier haben dem Sklavenhandel niemals Beschränkungen auferlegt, ihre Sklaven befreiten sich in blutigen Aufständen und im Zuge der lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung selbst. Weit länger bestand die Sklaverei dagegen in den USA.
Entschädigungen für Jahrhunderte voll Ausbeutung, Unterdrückung, Versklavung und Völkermord an Afrikanern und Indianern kommen den Rechtsnachfolgern der Täterstaaten bis heute nicht in den Sinn. Stattdessen gehen Ausbeuter und Kolonialherren neue, fein strukturierte Wege, verkaufen ihr Vorgehen in großangelegten Kampagnen unter dem Label der Menschenrechte, Demokratisierung und Globalisierung und schützen sich mit Mauern aus Wasser und Soldaten vor den Opfern.
Die Doppelmoral 1886 im Portugiesischen Strafgesetzbuch:
»Seeräuber ist, wer als Führer eines bewaffneten Fahrzeuges ohne Auftrag eines Herrschers oder selbständigen Staates auf dem Meer umherfährt, um Raub oder irgendwelche Gewaltakte zu begehen.«
Das Wörterbuch des Völkerrechts 1925: »Piraterie ist räuberisch gewaltsamer Angriff auf See ohne staatliche Autorisation.«
Glücklich kann sich schätzen, wer als Staat der Ersten Welt, in dessen Namen oder mit dessen Billigung rauben oder morden kann. Womit wir nicht nur bei den anfangs erwähnten Ansichten von Marx und Engels, sondern im Hier und Heute, im West und Rest, landen.
Mein Beitrag erschien bei Manova und Neue Debatte.
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