Mutige Künstler und Kulturschaffende sind selten. Um so mehr sind sie zu finden, vorzustellen und zu unterstützen sowie die Propaganda des Systems auszublenden. Der Kulturjournalist Eugen Zentner hat das getan. Aus der Einleitung seines Buchs »Kunst und Kultur gegen den Strom«:
Text: Eugen Zentner
In Krisenzeiten sollte die Kunst- und Kulturbranche eigentlich auf Missstände hinweisen. Sie sollte den Finger in die Wunde legen, der Gesellschaft den Spiegel vorhalten und mit Kassandrarufen vor Fehlentwicklungen warnen. Sie sollte aufbegehren und anklagen, aber auch nach Lösungen suchen und Utopien entwerfen. Einfluss und Wirkmacht von Künstlern sind groß, sie müssen sie nur nutzen. Dass sie das während der Corona-Krise tun würden, darauf hofften viele Menschen lange vergebens. Wer die Maßnahmenpolitik seit März 2020 als zu hart und unverhältnismäßig ansah, ersehnte ein gewaltiges oder doch wenigstens irgendein Echo aus der Kulturbranche. Schließlich war sie von den Einschränkungen selbst besonders stark betroffen: Vom Staatstheater bis zur Kleinkunstbühne, vom Konzertsaal bis zum Liveclub mussten sämtliche Spielstätten von einem Tag auf den anderen schließen. Festivals und Tourneen wurden abgesagt.
Wer in einer Kulturstätte fest angestellt war, hatte immerhin eventuell Anspruch auf Kurzarbeitergeld. Freiberufliche Künstler hingegen mussten nach Wegen suchen, wie sie ihren Lebensunterhalt sichern konnten. Für sie kamen die Einschränkungen einem Berufsverbot gleich. Angesichts dieser misslichen Lage wurde erwartet, dass die Kunstwelt ein lautes Signal senden würde. Statt aber ihre Stimme zu erheben, blieben die meisten Künstler still. Statt die Regierung dafür zu kritisieren, dass die Grundrechte außer Kraft gesetzt worden waren, redeten sie ihr nach dem Mund. Sie ließen sich für Werbekampagnen einspannen, halfen mit bei der Diffamierung von Maßnahmenkritikern, versuchten ihre Karriere durch konformes Verhalten zu retten. Andere gingen in die innere Emigration. Sie schwiegen und tauchten ab, um die Krisenzeit möglichst unbeschadet zu überstehen.
Wer durchblicken ließ, mit der Maßnahmenpolitik nicht einverstanden zu sein, wurde medial zerrieben – selbst wenn die Kritik zaghaft und nur in Andeutungen daherkam. An ansatzweise Aufmüpfigen klebten sofort Etiketten wie »Corona-Leugner«, »Verschwörungstheoretiker«, »Querdenker« oder »Schwurbler«. Vielen etablierten Künstlern dürfte zu jener Zeit bewusst geworden sein, dass sie nur im Kollektiv aufbegehren konnten. So schlossen sich relativ spät 53 namhafte Schauspieler und Filmschaffende aus Deutschland zusammen, um mit der Aktion #allesdichtmachen ein Zeichen zu setzen. Unter den Teilnehmern waren Jan Josef Liefers, Heike Makatsch, Wotan Wilke Möhring, Meret Becker, Ulrich Tukur und Nadja Uhl. Es war die Crème de la Crème der hiesigen Schauspielszene, die in Einzelvideos auf ironische und sarkastische Weise die Corona-Politik genauso hinterfragte wie die mit ihr verbundene »Diskussionskultur«.
#allesdichtmachen weckte in der Bevölkerung große Hoffnung: Endlich trauten sich berühmte Künstler, ihre Stimme gegen Ungerechtigkeit und undemokratische Maßnahmen zu erheben. Aber die Aktion verpuffte schneller als erwartet. Nach einem medialen Shitstorm ruderte rund die Hälfte der Schauspieler zurück und distanzierte sich von den eigenen Aussagen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt gaben unzufriedene Bürger auf, ihre Hoffnung in die Künstlerprominenz zu setzen. Für sie hatte die Kulturlandschaft auf weiter Strecke versagt. Dieser Eindruck hält sich bis heute.
In der Zwischenzeit wurde die Corona-Krise von weiteren Krisen abgelöst, aber gewisse Muster sind geblieben. Wer bei Themen wie Klima, Gender-Politik oder Ukrainekrieg vom Mainstream abweicht, bekommt Gegenwind. Andersdenkende werden aus dem Debattenraum verbannt, sie werden beschimpft und bei fortdauernder Renitenz existentiell vernichtet. Der autoritäre Geist feiert in Deutschland ein Comeback und durchdringt mit Riesenschritten alle Institutionen, auch die Kulturbranche. Wer als etablierter Künstler auch nur einmal von der herrschenden Meinung abweicht, bringt seine Karriere in Gefahr: Man wird nicht mehr zu Talkshows eingeladen, nicht interviewt, muß mit Vertragskündigungen und dem Ausbleiben von Aufträgen rechnen. Diese Art der subtilen Bestrafung ist heute unter dem Begriff »Cancel Culture« bekannt. Sie schreitet derart rasend voran, dass Künstler ihren Beruf zunehmend mit einer Schere im Kopf ausüben. Es fällt immer mehr auf, wie bereitwillig die meisten heute den Mächtigen nach dem Mund reden. Von der rebellischen Attitüde früherer Jahre ist nicht viel übrig. Statt die Obrigkeit in Politik und Wirtschaft für ihr Fehlverhalten zu rügen und zu verspotten, statt also nach oben zu treten, tritt man nach unten – gegen alle, die sich den offiziellen Narrativen nicht fügen wollen.
Wer der Cancel Culture zum Opfer fällt, dem bleibt nur die Flucht in eine alternative Kulturszene. Die wächst zum Glück recht schnell. Das ist die positive Botschaft. Infolge der sozialen Verwerfungen der Krisenzeit haben sich in der Kulturbranche parallele Strukturen herausgebildet. Von ihnen erzählt dieses Buch. Die Alternativen in Kunst und Kultur sind auf zweierlei Weise zu verstehen: Sie ergeben sich einerseits für die Künstler selbst, weil neue Medien, neue Kulturwettbewerbe oder neue Auftrittsmöglichkeiten entstehen. Andererseits ergeben sich auch Alternativen für Rezipienten, die von der Kultur erwarten, dass sie gerade in Krisenzeiten als Korrektiv fungiert. Diese Leerstelle füllen mittlerweile zahlreiche Newcomer und professionelle Künstler, die zuvor meist im Hintergrund agierten. Sie erheben ihre Stimme und scheuen sich nicht, unangenehme Themen anzusprechen, ob in der Musik, im Kabarett, in der Literatur oder in der bildenden Kunst. Gattungs- und genreübergreifend sind in den letzten Jahren zahlreiche Werke entstanden, die sich kritisch mit dem Zeitgeschehen auseinandersetzen und die offiziellen Narrative gegen den Strich bürsten. Formal und inhaltlich gibt es durchaus Schnittmengen, allerdings auch Abweichungen im Ton und in den Botschaften: Manche Künstler klagen an, andere bauen Brücken. Mal spielen sie mit Humor, mal beschreiben sie die Verhältnisse in einer melancholischen Sprache. Es lassen sich experimentelle Ansätze finden, aber auch konventionelle. Die Spannbreite des künstlerischen Ausdruckswillens wächst im gleichen Tempo wie das Arsenal der Meinungswächter, die auch diese Künstler zum Schweigen bringen wollen. Wie den Schauspielern der #allesdichtmachen-Aktion bläst ihnen Gegenwind ins Gesicht. Sie werden diffamiert und bisweilen strafrechtlich verfolgt. Auftritte werden kurzfristig abgesagt, Hallenmietverträge gekündigt, Videos gelöscht – auf bestimmten Online-Portalen dürfen sie ihre Werke nicht veröffentlichen.
Entmutigen lassen sich diese Künstler aber nicht, so widrig die Arbeitsbedingungen sein mögen. Sie zeigen einen langen Atem und produzieren munter weiter, in der Hoffnung, zur gesellschaftlichen Veränderung beizutragen. In der außerparlamentarischen Opposition werden sie dafür verehrt und bewundert. Manche Künstler erfreuen sich einer wachsenden, treuen Fangemeinde. Sie werden häufig gebucht und gehen auf Tour. Wer schon vor Corona als freischaffender Künstler tätig war, empfindet die neuen Auftrittsbedingungen als angenehm – trotz Cancel Culture: Man spielt immer noch auf Kleinbühnen und bisweilen vor einem kleineren Publikum, aber vor einem, das die gleiche Einstellung und Weltsicht teilt. Das Gemeinschaftsgefühl spornt sie an; es gibt ihnen Kraft und setzt kreative Energie frei.
Außerhalb des Mainstreams lässt es sich zumindest stellenweise sehr wohl aushalten. Das bestätigen selbst große Namen, die früher im Rampenlicht standen. Spürten sie dort den Druck vorherrschender Sprachregelungen, so fühlen sie sich in der alternativen Kulturszene frei. Hier können sie ganz sie selbst sein, können sagen, was ihnen auf dem Herzen liegt. Sie können ihre Kunst ausleben, ohne sich selbst zu zensieren. Manch eine totgeglaubte Karriere wird wieder angekurbelt. Mancher Künstler erlebt einen zweiten Frühling, weil er wieder Menschen erreicht, positives Feedback erhält, seine Kunst neu lieben lernt.
Das gilt erst recht für Newcomer, von denen nicht wenige zu ihrem einstigen Hobby zurückgefunden haben und es nun zu professionalisieren versuchen, indem sie das Potential der entstandenen alternativen Strukturen nutzen. Die Erfolgreichen unter ihnen genießen überregionale Bekanntheit. Und auch wenn sie oftmals von ihrer Kunst nur spärlich leben können, erhalten sie Wertschätzung, die manchmal mehr wert ist als Geld. Auf neuen Konzertreihen und Festivals treffen sie andere Künstler, Kollegen mit kritischem Geist und unangepasster Haltung, sodass im Anschluss nicht selten Kooperationsprojekte entstehen. Man vernetzt sich und inspiriert sich gegenseitig. Das kommt allen Beteiligten zugute. Wenn die alternative Kulturszene floriert, profitieren davon nicht nur Veranstalter und Künstler, sondern alle Menschen in der außerparlamentarischen Opposition. Auch sie wollen keine Kunst mehr, die sich ausschließlich an der herrschenden Meinung orientiert. Wie in anderen Gesellschaftsbereichen sehnen sie sich nach Vielfalt, nach künstlerischen Darbietungen, die aus dem Einheitsbrei hervorstechen, die überraschen und fesseln, Gefühle wecken und zum Nachdenken bringen. Die das Verbotene wagen und provozieren. Kunst ist nicht nur Unterhaltung. Sie hat auch die Gabe, Kraft zu verleihen und Trost zu spenden, gerade in so schweren Zeiten wie diesen. Die hier vorgestellten Künstler und Institutionen tun das auf ihre je eigentümliche Weise – so unermüdlich wie beherzt.
Der Beitrag erschien bei kultur-zentner.
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